Illustration von OPAK.cc

 

Die grosse Krise erreicht Bangladesch per E-Mail. Am 23. März 2020 schreibt Martijn van der Zee, die Nummer zwei im Modekonzern C&A, an seine Kleiderproduzenten: „Aussergewöhnliche Zeiten erfordern aussergewöhnliche Massnahmen, (…) die unsere Partnerschaft auf die Probe stellen“. Dann storniert C&A „mit sofortiger Wirkung“ alle Bestellungen bis Ende Juni, unabhängig vom Status. Sogar Kleider, die bereits genäht worden sind, bleiben in den Lagerhallen von Dhaka liegen. 

Nachricht von C&A an Hersteller in Bangladesch
(Originaldokument, 23. März 2020)

 

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Einige Tage später kehrt Jamila* aus dem von der Regierung verordneten, coronabedingten “landesweiten Urlaub” in die bangladeschische Hauptstadt zurück. Die Näherin, die bei Dazzling Dresses Kleider für C&A produziert, hofft auf eine baldige Wiederaufnahme ihrer Arbeit – vergebens. Noch bevor sie die Fabrik erreicht, sieht Jamila auf dem Smartphone einer Mitarbeiterin ein Bild mit einem Aushang: “Auf unbestimmte Zeit geschlossen.” 

Zu Hause in ihrem Zimmer bekommen Jamila und ihr Ehemann Panik. “Ich hoffe, ich bekomme wenigstens den Basislohn”, sagt sie Ende März. “Wenn die Fabrik jetzt monatelang geschlossen bleibt – wie soll es weitergehen?” Jamila ist zwischen 25 und 28 Jahre alt, eine Geburtsurkunde besitzt sie nicht. Gemeinsam mit ihrem Mann, der Schwiegermutter und den beiden Töchtern wohnt sie in einem kleinen Zimmer in einer der zehntausenden Baracken, die sich im Norden Dhakas um Fabriken wie Dazzling Dresses gebildet haben. Auf einem Foto, das sie uns sendet, trägt sie eine gelbe Jogginghose und einen weiten, roten Schleier, darunter sind ihre Haare zu einem Dutt gebunden. Sie lächelt ihre Tochter auf ihrem Arm an, die einen grünen Schleier trägt, sodass nur die kleinen Augen sichtbar sind. Die gesamte Familie lebt von den umgerechnet rund 113 Franken, die Jamila monatlich verdient. Dieses Einkommen ist jetzt in Gefahr.

Publikationen
Beobachter, 3 Juli 2020
De Correspondent, 22. Juli 2020
REFLEKT (বাংলা), 21. Juli 2020
Dhaka Tribune, 22. Juli 2020
De Correspondent, 3. August 2020
The Correspondent, 4. September 2020

Verheerende Panikreaktion

C&A ist nicht der einzige Konzern, der Grossaufträge in Bangladesch abrupt aussetzt. Als Folge der Corona-Krise werden Aufträge im Umfang von 3,2 Milliarden Dollar storniert oder gestoppt. Das ist fast ein Zehntel der jährlichen Textilausfuhren des Landes.

Welche Modemarken bei welchen Fabriken Bestellungen gestoppt haben, zeigt erstmals ein ausführlicher Datensatz, der REFLEKT vorliegt. Im März 2020 hat der bangladeschische Textilexportverband BGMEA seine Mitglieder gefragt: Welche internationalen Modeketten stornieren und setzen Bestellungen aus? Um wie viel Geld/Kleidungsstücke geht es? Und wie viele Angestellte sind betroffen? Der Datensatz führt 7854 stornierte oder aufgeschobene Order aus der Modeindustrie weltweit auf, darunter auch solche aus der Schweiz. Es ist eine unvollständige Momentaufnahme, die einen Einblick in die Mechanismen der Fast Fashion Industrie ermöglicht. Wir publizieren die Daten an dieser Stelle in Originalform und haben lediglich die Namen der Lieferanten in Bangladesch entfernt, um diese zu schützen. Sie berichten uns, dass sie sich vor negativen Reaktionen der westlichne Textilunternehmen fürchten.

BGMEA-Datenbank mit stornierten und gestoppten Bestellungen
(Excel-File, Ende März 2020)

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Allein C&A soll Aufträge im Wert von 166 Millionen Dollar gestrichen haben. Bei der Basler Modekette Tally Weijl sind es laut Datensatz gestoppte Bestellungen im Wert von 7 Millionen Dollar und Stornierungen  im Wert von 3 Millionen Dollar. Ende Juni spricht Tally Weijl gegenüber REFLEKT von Stornierungen im Wert von 2.17 Millionen Dollar. Die Höhe der Stornierungssumme sei zwar aussergewöhnlich, man habe aber nur Artikel annulliert, die noch nicht in Produktion waren. Für die Lieferanten würden keine Zusatzkosten entstehen, da Tally Weijl die Rohmaterialien andersweitig nutzen könne.

Kleider im Wert von knapp 35 Milliarden US-Dollar verschickt Bangladesch jedes Jahr in alle Welt. 84 Prozent der Gesamtexporte des Landes entfallen auf Artikel wie T-Shirts, Hosen oder Herrenanzüge, den Exportschlager. Deutsche Modemarken sind Hauptabnehmer der Textilware aus Bangladesch – für den Moderiesen C&A ist der deutsche Markt mit seinen 450 Filialen einer der wichtigsten.

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Milliardenschwere C&A-Familie

In einer dieser Filialen, am Alexanderplatz in Berlin, arbeitet Martina*. Sie ist 35 Jahre alt, alleinerziehend mit zwei Kindern und seit ihrer Ausbildung bei C&A. Normalerweise arbeitet sie teilzeit, 34 Stunden die Woche, für 1500 Euro netto. Seit sie wegen Corona auf Kurzarbeit gesetzt wurde, erhält sie noch 67 Prozent ihres Gehalts. “Lieber so, als wenn die Firma pleite ginge“, sagt sie. „Aber als ich das hörte, musste ich schon erstmal leer schlucken.“ Für die Krise könne die Firma ja nichts, aber C&A zahle halt auch nicht nach Tarif. „Die gehören keiner Gewerkschaft an”, sagt Martina. “Ist ja ein reines Familienunternehmen, die können das selber entscheiden.”

Hinter C&A steht die Cofra-Holding mit Hauptsitz im steuergünstigen Schweizer Kanton Zug. Eigentümer der Holding ist die Familie Brenninkmeijer, deren Vermögen sich gemäss der Zeitschrift Bilanz auf geschätzte 14 Milliarden Franken beläuft und die als achtreichsten Familie der Schweiz gilt. Doch auch C&A hat zu kämpfen. Obschon das Familienunternehmen kaum Geschäftszahlen veröffentlicht, ist bekannt: Seit Jahren schrumpft der Umsatz der Textilunternehmens, Discounter wie Aldi und Lidl verkaufen billiger, Modeketten wie Zara oder H&M ziehen mehr Kundinnen an. 2018 suchte die Familie nach einem Käufer für C&A – erfolglos.

Über 1500 Brenninkmeijers sollen zum Familienkreis gehören – 68 von ihnen als Anteilseigner der Cofra Holding, die mehrere Gesellschaften vereint. Einher mit dem Modehaus geht das Immobilienunternehmen Redevco, in dessen Besitz wiederum einige C&A-Filialen sind. Das Vermögen des Clans wird von einer eigenen Firma verwaltet, dem „Family Office“ Anthos, das bei Umzügen hilft oder Kreditkarten ausstellt. Für Streitigkeiten haben die Brenninkmeijers ein eigenes Schiedsgericht – für die Karrieren in der Familie ein eigenes Trainingsprogramm. Viele Brenninkmeijers vertreten heute das C&A-Management oder Teile der Holding, sei es in Brasilien, Mexiko, China, oder den USA. Das erzählte das damalige Familienoberhaupt Maurice Brenninkmeijer 2015 in einem der äusserst raren Brenninkmeijer-Interviews der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“. Das Selbstverständnis der Familie beschrieb er als konservativ, streng katholisch, global agierend aber niederländisch, profitorientiert.

 

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Und nun brennt es im Kerngeschäft der Familie. C&A hat nicht nur Verkäuferinnen in Kurzarbeit geschickt und Näherinnen um ihren Lohn gebracht, das Unternehmen zahlt seit Anfang April auch keine Miete mehr für seine Filialen in Deutschland und in der Schweiz. In ganz Europa hat das Modehaus 1400 Geschäfte vorübergehend geschlossen. Laut Medienberichten hat C&A am 18. März 2020 einen Serienbrief an seine Vermieter in Deutschland verschickt. Darin beruft sich C&A auf höhere Gewalt, die zur “vollständigen Aussetzung seiner Verpflichtung zur Zahlung von Miete” berechtige. Und auch für die Zeit nach dem Lockdown verlangt C&A „Mietanpassungen und andere relevante Unterstützung“. Auf Anfrage geben sich Gewerbevermieter wie Unibail-Rodamco-Westfield bedeckt, zu gross ist die Angst, bei dem Moderiesen den Kürzeren zu ziehen. 

Ein juristisches Dilemma

Mit der Schliessung der Filialen in Europa begründet C&A auch den großen Auftragsstopp in Bangladesh. Fast alle Regierungen hätten das öffentliche Leben lahmgelegt, man könne deshalb für „mehrere Wochen, wenn nicht sogar Monate“ keine Mode in den Läden verkaufen, hiess es in der E-Mail an die Zulieferer. Die Rechnung ist einfach: kein Verkauf, kein Umsatz, kein Geld für die Lieferanten. Diese könnten nicht erwarten, dass der Konzern die Verträge „einhalten und/oder erfüllen“ würde. C&A beruft sich auf deutsches Recht. Es erlaube, Bestellungen bei höherer Gewalt auszusetzen oder zu annullieren.

Rechtsanwälte wie der auf die Modebranche spezialisierte New Yorker Alan Behr sehen das kritisch. Der Hinweis auf höhere Gewalt sei möglicherweise eine ungerechtfertigte Anwendung, „da die meisten Klauseln über höhere Gewalt Pandemien nicht als Grund für Zahlungsversäumnisse angeben.“ Letztlich müsse ein Gericht darüber befinden.

Ob es je zu einem Rechtsstreit kommen wird, ist jedoch fraglich. Denn für die Lieferanten sind die Aufträge überlebenswichtig. „Viele werden sich nicht gegen die Modekonzerne wehren“, sagt Christie Miedema von der Nichtregierungsorganisation Clean Clothes Campaign. Sollten die Lieferanten grosse Kunden wie C&A verärgern, könnten diese einfach ins nächste Land weiterziehen –  wie eine Karawane auf der Suche nach noch günstigeren Produktionsbedingungen.

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Dieses Ungleichgewicht ist nicht neu, rückt aber durch Corona erneut in den Fokus. Konzerne wie C&A entwerfen Verträge und sie heben sie auch wieder auf. Ein Beispiel dafür sind die allgemeinen Geschäftsbedingungen von C&A. So erlaubt sich der Konzern, Rechnungen der Lieferanten um bis zu 12 Prozent zu kürzen. Einen „Discount von 4,5 Prozent“ gönnt sich C&A, wenn die Firma die Rechnung innerhalb von zehn Tagen bezahlt. „Das liest sich für mich wie: Wir nehmen mal 4,5 Prozent Rabatt auf alles“, sagt ein Branchenkenner. Weitere 7,5 Prozent können bei „Lieferung einer anderen Ware oder weniger Ware als bestellt“ abgezogen werden. Dass ein Hersteller eine exakte Stückzahl liefern muss, ist laut dem Branchenexperten „eine harte Nummer, ein Knebelvertrag“. Üblicherweise akzeptierten Einkäufer zwischen zwei und drei Prozent mehr oder weniger Kleidungsstücke.

Die Lieferanten in Bangladesch bezahlen Rohstoffe und Löhne im Voraus, versuchen Liefertermine einzuhalten, die kaum einhaltbar sind und am Ende bleibt allenfalls ein kleiner Gewinn hängen. Immer nach dem Motto: besser schlechte Aufträge, als gar keine. Diese Verhältnisse wirken sich auch auf das Leben der Näherinnen aus, die mit Lohndumping und unrealistischen Zielvorgaben konfrontiert sind. Human Rights Watch kommt in einer Studiezum Schluss, dass die Käufer die Zulieferer finanziell dermassen ausquetschen, dass letztere „grosse Anreize verspüren, ihre Kosten durch Ausbeutung zu verringern“.

Dabei wurde in den vergangenen sieben Jahren, seit dem Einsturz des Fabrikkomplexes Rana Plaza, viel erreicht in Bangladeschs Textilindustrie. Zulieferer und Modefirmen einigten sich auf ein Abkommen, das regelmässige Prüfungen von Arbeitsbedingungen sicherstellt. In Deutschland gibt es ein Textilbündnis, eine Initiative des Entwicklungsministeriums, bei der alle grossen Modemarken mit Zivilgesellschaft an einem Tisch sitzen. Und die Brenninkmeijers, die Eigentümer von C&A, bezeichnen sich selbst als Philanthropen und werden nicht müde zu betonen, sie seien Anhänger hoher ethischer Standards. So setzt C&A seither auf Transparenz: Auf der Website lassen sich alle Zulieferer finden. Zudem finanziert die Laudes Foundation – der gemeinnützige Arm von C&A – unter anderem Mapped in Bangladesh, ein Open-Source Projekt, das alle Fabriken im Grossraum Dhaka auflistet, samt Belegschaft und Kunden. In der Corona-Krise jedoch fallen diese Errungenschaften in sich zusammen wie einst das Gebäude von Rana Plaza. 

Verzweiflung in Bangladesh

„Unsere Lage ist apokalyptisch“, sagt Rubana Huq, Präsidentin des bangladeschischen Textilexportverbandes BGMEA, Ende März. „Die stornierten und ausgesetzten Bestellungen der westlichen Modehäuser bringen uns an den Punkt der Insolvenz.“ In ihrer grössten Not entscheiden sich die  Lieferanten deshalb für ein aussergewöhnliches Vorgehen: Sie prangern die Methoden ihrer europäischen Kunden öffentlich an und bitten sie um die Zahlung der Ausstände. Auch die Modegiganten aus Übersee kritisiert die wohl mächtigste Frau der bangladeschischen Textilindustrie, die auch Managerin eines grossen Zulieferers ist: „Das Verhalten der Käufer seit Ausbruch der Pandemie entspricht in keiner Weise der glorreichen Geschichte unserer Zusammenarbeit“, schreibt sie auf Anfrage. „Mit einigen Ausnahmen haben alle Textilunternehmen skrupellos Bestellungen gekündigt – auch deutsche.“

 

Öffentlicher Aufruf von Rubana Huq
(Youtube, 23. März 2020)


Mitte April bricht in Bangladesch das Chaos aus. Hunderttausende Näherinnen sind von ihren Familien zurück nach Dhaka gekommen und warten nun auf ihren Lohn. Eine von ihnen ist die 28-jährige Kulsum. Wie Jamila näht auch sie in einer bangladeschischen Fabrik Kleider für C&A. Wie Jamila hat auch sie vorübergehend ihren Job verloren. Die junge Mutter arbeitet für Sams Attire, mit ihrem Gehalt zahlt sie die Miete und die Schulkosten ihrer beiden Kinder. „Mein Mann zieht eine Rikscha von Hand“, sagt Kulsum. „Mit seinem Lohn kann er gerade mal Essen kaufen.“ Und nun sitzt sie mit ihrer Familie in ihrer Wohnhütte in der Nähe der Fabrik in Dhaka. Seit dem „landesweiten Urlaub“ konnte sie nicht mehr zur Arbeit gehen. Ihr Vermieter frage täglich nach der fälligen Miete. Kulsum hat Angst, dass er ihnen kündigt und sie zum Auszug zwingt. „Wenn der Lockdown so weitergeht, wird es sehr schwierig zu überleben“, sagt sie. „Wer arm ist, muss wohl sterben.“

Zwar hatte Premierministerin Sheikh Hasina ab 25. März 2020 mehrere millionenschwere Finanzpakete zur Unterstützung der Textilindustrie versprochen, doch die Auszahlung verläuft schleppend und den Familien geht das Geld aus. Laut einer Umfrage hat bis zum 15. April fast die Hälfte der über vier Millionen Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter keinen Märzlohn bekommen. Über die Auszahlung auf Bankkonten will die Regierung sicherstellen, dass das Geld auch ankommt. Und nicht im Fabrikmanagement oder bei den Ehemännern der Näherinnen versickert. Zehntausende gehen in den ersten Aprilwochen auf die Strasse, oft in Gruppen mit weniger als 200 Personen. Die einen fordern ihren Basislohn, weil sie hungern, andere protestieren für die Wiedereröffnung ihrer Fabrik und wieder andere wollen, dass ihre Fabrik geschlossen bleibt, weil sie Angst vor dem Virus haben. Bei den Protesten sollen zwei Demonstrierende getötet worden sein, Dutzende wurden verletzt.

Kulsum protestiert nicht, weil sie Angst hat, sich mit dem Virus anzustecken. Stattdessen näht sie aus einem alten Schal eine Decke, innen weiss, aussen himmelblau mit Blumen gemustert, Mittlerweile isst die Familie nur noch zwei Mal täglich Puffreis und Linsen.

Arme Menschen sterben nach Ermessen des Allmächtigen.

Kulsum (Name geändert), Näherin für C&A in Bangladesch


Auch Jamila protestiert nicht. Ohne Zustimmung ihres Ehemannes Osmani darf sie nicht einmal öffentlich reden, schon gar nicht mit der Presse. Auch er hat für Dazzling Dresses gearbeitet, hat bis August 2019 als Vorarbeiter eine Produktionslinie überwacht und die Fabrik dann im Streit verlassen. “Wer mit euch redet, verliert seinen Job bei der Epyllion Group”, sagt er.

Epyllion Group ist einer der Großlieferanten von C&A, mit dem das Modehaus laut Nachhaltigkeitsbericht eine besonders enge Beziehung pflegt. Die 12’060 Arbeiterinnen und Arbeiter könnten Probleme direkt kommunizieren und seien besonders abgesichert, schreibt C&A. Jamilas Ehemann Osmani sieht das anders: “Während einer meiner Schichten wurden 49 Mitarbeiter auf einen Schlag entlassen.” Schuld am rigorosen Umgang mit seiner Belegschaft sei nicht der Eigentümer der Fabrikgruppe, sondern das Management. Eine Gewerkschafterin bestätigt uns den Vorfall: “Arbeiter, die ihre Überstunden fair ausbezahlt haben wollten, wurden gefeuert.” Und so reisst die Corona-Krise alte Wunden auf bei Osmani und Jamila. Immer seltener beantwortet das Paar unsere Anrufe, zu gross ist die Angst, auch noch Jamilas Job zu verlieren. Mit den Vorwürfen konfrontiert, schweigt der C&A-Zulieferer Epyllion.

Das grosse Zurückrudern

Weltweit berichten Medien über die Missstände in Bangladesch, Aktivistinnen und Aktivisten prangern das Verhalten der Käufern gegenüber ihren Zulieferern an und in Deutschland fordern sie ein Lieferkettengesetz, durch das Modefirmen für ihre Bestellungen haften müssten. 

Dadurch gerät auch C&A unter Druck. Im April bittet C&A-Einkaufschef Martijn van der Zee im April die Zulieferer um Verständnis: „Wir wissen, dass unser erstes Schreiben Sie schockiert hat (…). Auch wir wurden hart getroffen und hatten zu der Zeit keine andere Möglichkeit, als sofort drastische Massnahmen zu ergreifen.“ C&A werde die bereits verschiffte Ware bezahlen und die Mehrheit der bestellten Kleider übernehmen. 

Am 23. April veröffentlicht die Schweizer Cofra Holding eine Pressemitteilung: C&A habe 93 Prozent der aufgehobenen Bestellungen wieder aufgenommen. Auf welche Produktionsländer und welchen Zeitraum sich diese Zahl bezieht, will C&A auf Nachfrage nicht präzisieren.

Ein Zulieferer in Bangladesch sagt Anfang Mai gegenüber REFLEKT: „C&A stoppt bis heute Bestellungen.“ Der bangladeschische Textilexportverband kommt Anfang Mai nach einer Befragung seiner Mitglieder zum Ergebnis, C&A wolle 40 Prozent der Bestellungen definitiv streichen, 20 Prozent im Dezember beziehen und die restlichen 40 Prozent im nächsten Jahr.

Auch andere Textilunternehmen wie H&M, Inditex und Primark reaktivieren Teile ihrer gestoppten oder annullierten Bestellungen. Die US-Nichtregierungsorganisation Worker Rights Consortium, die sich für die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern einsetzt, betreibt auf ihrer Webseite einen Covid-19 Tracker mit den aktuellen Statements der wichtigsten Firmen.

 

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Kulsum erfährt am 1. Mai, dass sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen darf – nach Wochen, in denen die Familie nur Linsen mit Reis-Crackern gegessen hat. „Endlich“, sagt sie. „Ich war so glücklich über die Wiedereröffnung der Fabrik, dass ich das Lieblingsgericht meines Mannes gekocht habe: Linsensuppe, pürierte Auberginen, gekochten Spinat und Reis.“

Am Morgen der Wiedereröffnung näht Kulsum Bünde an schwarze Kinderhosen, 50 Stück in 60 Minuten, und denkt an ihren Sohn. “Wenn ich den Eid-Bonus kriege, möchte ich mit ihm shoppen gehen”, sagt sie. Eid Mubarak, das Zuckerfest, steht kurz bevor.  Bis zu 6000 Näherinnen arbeiten normalerweise in der Fabrik von Sams Attire, 600 bis 700 pro Etage. Laut Kulsum ist die Fabrik von Anfang an fast voll belegt, obwohl laut BGMEA nur 30 Prozent der Arbeitskräfte erlaubt sind. Als die erste Schicht endet, wollen alle gleichzeitig nach draussen: „Es ist schwierig, die nötige Distanz einzuhalten,“ sagt Kulsum. Mit den Vorwürfen konfrontiert, nimmt Sams Attire nicht Stellung.

Der Schaden ist angerichtet

Am 12. Mai wird auch in der C&A-Filiale am Berliner Alexanderplatz wieder gearbeitet. Eine Kundin fragt Verkäuferin Martina nach Schlafanzügen für Jungs. “Jetzt ist Saisonwechsel, die Kinder brauchen Frühlingssachen und Sommersachen”, sagt Martina. Vieles sei “flötengegangen” in den letzten Wochen. Die Kleidung, die es aus Dhaka nach Berlin geschafft hat, steht reduziert im Angebot, während Martina noch immer Kurzarbeitsentschädigung bezieht. “Wenn sich das noch länger hinzieht, muss ich schauen, ob ich einen zweiten Job annehme”, sagt sie. Obwohl sie eigentlich gerne für das Traditionshaus arbeitet. “Jeder kann etwas mit der Marke C&A anfangen. Es wäre traurig, wenn das kaputt ginge.”

Im Bangladesch erhält Kulsum derweil den vollen März-Lohn, 60 Prozent ihres April-Lohnes sowie den erhofften Eid-Bonus. Das Geld dafür kommt jedoch nicht von den westlichen Textilunternehmen, sondern aus staatlichen Krediten, welche die Fabriken mit 2 Prozent Zinsen zurückzahlen müssen. Obwohl die Kleiderläden wieder offen sind und die Fabriken produzieren, klafft in Bangladesch noch immer ein grosses finanzielles Loch. Anfang Juni gibt Rubana Huq vom Textilexportverband BGMEA bekannt, dass erst 1926 von 4500 Fabriken die Produktion wieder aufgenommen hätten – wegen der geschrumpften Aufträge betrage die Auslastung nur 55 Prozent. Aufgrund der gestoppten Bestellungen fehlten immer noch 430 Millionen Dollar, um die Löhne zu bezahlen. Bis zu einer Million Jobs seien allein im Textilsektor gefährdet. „Wir setzen Firmen, die nicht zahlen und nicht auf ihre Lieferanten reagieren, auf eine schwarze Liste”, sagt Rubana Huq. Und: Erstmals drohen einzelne Lieferanten damit, europäische Käufer zu verklagen.

 

Bis zu einer Million Arbeitsplätze könnten betroffen sein.

Rubana Huq, Präsidentin des bangladeschischen Textilexportverbands BGMEA


Ein Sprecher von C&A hält fest: „Eine vollständige Produktion aller alten Bestellungen ist nicht möglich und sinnvoll, weil die Produktion in vielen Zulieferländern über mehrere Wochen komplett unterbrochen war und derzeit zum Schutz der Fabrikarbeiterinnen auch nur eingeschränkt wieder aufgenommen werden darf.“

Scott Nova von der US-Nichtregierungsorganisation Worker Rights Consortium geht davon aus, dass C&A etwa 90 Prozent der gestoppten Bestellungen reaktiviert habe. Damit stehe die Firma besser da als andere Konzerne, doch das Problem sei nicht gelöst. Einerseits wolle das Textilunternehmen Bestellungen bis zu einem Jahr hinauszögern, was einer Stornierung gleichkomme. Zudem seien in Bangladesch konservativ gerechnet immer noch 20 bis 30 Millionen Dollar der C&A-Gelder ausstehend. Zwei bis drei Millionen Dollar davon fehlten bei den Gehältern – das entspricht dem Monatslohn von 20‘000 bis 30‘000 Näherinnen.

*Name geändert

Diese Recherche wurde am 3. Juli 2020 publiziert – zu einem Zeitpunkt, an dem sich aktuelle Zahlen & Firmenstatements noch immer veränderten und zahlreiche Fragen offen bleiben mussten.

Einen aktualisierten Überblick über das Verhalten der Textilunternehmen während der Corona-Krise bieten folgende Organisationen:
Business & Human Rights Resource Centre: Wie haben die Unternehmen offiziell kommuniziert?
Workers Rights Consortium: Welche Unternehmen haben zugesagt, erledigte und sich in Produktion befindende Bestellungen zu bezahlen?

Unklar bleibt: Was passiert mit den Bestellungen, die noch nicht in Produktion waren? Halten die Unternehmen ihre Versprechen und nehmen, wie angekündigt, ihre Bestellungen ab? Wann werden die verschobenen Bestellungen bezahlt? Und wie wirkt sich diese Verschiebung auf das Geschäft des Folgejahres sowie die bangladeschische Textilwirtschaft insgesamt aus?

Einige unserer Mitarbeitenden wurden im Rahmen dieser Recherche vom European Journalism Covid-19 Support Fund unterstützt.

Hintergrund & Dokumente

An dieser Recherche waren vier Personen über den Zeitraum von ungefähr drei Monaten beteiligt. Nachdem im März 2020 mit dem Lockdown in Europa auch die Misere der Textilindustrie in Bangladesch begann, sammelte unser Team erste Daten und Kontakte in Bangladesch sowie in Deutschland. Wir sprachen mit mehr als zehn Näherinnen und Nähern aus Fabriken in Dhaka, welche laut einer internen Datenbank auch für europäische Modemarken wie C&A produzieren. Aufgrund der eingeschränkten Bewegungsfreiheit liessen wir uns Fotos und Videos der NäherInnen schicken, welche sie im Umfeld ihrer Fabriken oder bei Protesten zeigen. Daneben bauten wir Kontakt zu bangladeschischen Arbeitnehmer- sowie Arbeitgebervertretern auf, die uns mit aktuellen Informationen von vor Ort versorgten. Insgesamt haben wir Dutzenden Gespräche mit BranchenkennerInnen und anderen Quellen in vier Ländern geführt sowie unzählige Berichte, Studien und Artikel rund um das Thema Fast Fashion gelesen.
Im Namen der Transparenz und der Gemeinnützigkeit stellen wir der Öffentlichkeit an dieser Stelle ausgewählte Originaldokumente sowie weiterführende Links zur Verfügung.

Dil Afrose Jahan

Recherche & Text

Sylke Gruhnwald

Recherche & Text

Maike Brülls

Recherche & Text

Benedict Wermter

Recherche & Text

Christian Zeier

Recherche & Text

Opak.cc

Illustration

Stirling Tschan

Webdesign

Valentin Felber

Multimediaproduktion