Ein international gesuchter Mafiaboss reist in die Schweiz und knüpft hier unbehelligt Kontakte. Seine Anwesenheit ist ein gefährliches Zeichen – in der Türkei ist seine Gang für skrupellose Verbrechen und brutale Morde bekannt.

Das Wichtigste in Kürze

  1. Im August 2022 verhaftet eine Spezialeinheit den türkischen Mafiaboss Barış Boyun in Rimini. Er ist mit einem Schweizer Auto und in Schweizer Begleitung aus der Schweiz angereist.
  2. Boyun gilt in seiner Heimat als führendes Mitglied der organisierten Kriminalität. Seine Gang soll für Morde und Schiessereien auf offener Strasse verantwortlich sein.
  3. Die türkischen Behörden suchten Boyun unter anderem wegen Körperverletzung, Bildung einer kriminellen Vereinigung und mehrfachen Mordes.
  4. Jetzt zeigen REFLEKT-Recherchen: Der Mafiaboss hielt sich vor seiner Verhaftung mehrmals in der Schweiz auf. Unbehelligt knüpfte er Kontakte zu hiesigen kriminellen Organisationen.
  5. Laut einem Insider sollen auch gewaltbereite Mitglieder seiner Gang in die Schweiz eingereist und hier aktiv sein. Er befürchtet, dass die brutale Gewalt in die Schweiz überschwappen könnte, sollten die Behörden nichts unternehmen.

Es ist Dienstag, der 2. August 2022, in Rimini. Während sich die Eidgenossenschaft von ihrem Nationalfeiertag erholt, steigen im italienischen Badeort vier Männer aus einem Opel mit Schweizer Kennzeichen: drei in der Schweiz wohnhafte Personen und ihr Boss, ein Türke um die vierzig, leicht untersetzt, das freundliche Gesicht von dunklen, kurzen Haaren und einem Bart umrahmt.

An der Viale Amerigo Vespucci, nur fünfzig Meter vom Strand entfernt, betreten die Männer das «Hotel Imperiale» – vier Sterne, grosser Spa-Bereich, Frühstückssaal mit Blick aufs Meer. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht wissen: Die italienische Polizei ist ihnen auf den Fersen. In weniger als 24 Stunden wird ein Sonderkommando das Hotel stürmen und ihren Aufenthalt beenden.

Brutale Bandenkriege

«Arrestato a Rimini Barış Boyun, boss della mafia turca». So titelt die italienische Nachrichtenagentur «ANSA» zwei Tage darauf. Barış Boyun, türkischer Mafiaboss, in Rimini verhaftet. Die italienischen Zeitungen nehmen die Nachricht auf, die türkischen ziehen nach. Denn Boyun, der Mann mit dem freundlichen Gesicht, ist nicht irgendwer. Der damals 38-Jährige stand auf der Fahndungsliste von Interpol und gilt in seiner Heimat als führendes Mitglied der organisierten Kriminalität.  Anfang April 2022 haben ihn die türkischen Behörden zur Fahndung ausgeschrieben – unter anderem wegen Körperverletzung, Bildung einer kriminellen Vereinigung und mehrfachen Mordes.

Seine Gruppierung, die sogenannten «Daltonlar» oder «Daltons», sorgt in der Türkei mit brutaler Gewalt, Schiessereien und martialischer Selbstdarstellung auf Social Media für Schlagzeilen. Unter anderem soll sie für den Mord am einflussreichen serbischen Mafioso Jovan Vukotic in Istanbul verantwortlich sein. Aufnahmen von Überwachungskameras, welche die türkischen Behörden publiziert haben, zeigen die Daltons, wie sie von Motorrädern aus oder zu Fuss aus nächster Nähe auf Menschen schiessen. Nach Boyuns Verhaftung starteten die türkischen Behörden eine grossangelegte Operation gegen ihn und seine Daltons – von Massenverhaftungen bis hin zur öffentlichen Diskreditierung in auflagestarken Zeitungen.

Schiesserei auf Istanbuls Strassen – mit mutmasslicher Beteiligung der Boyun-Gang.

Dass gemeinsam mit dem berüchtigten Mafioso auch drei Personen aus der Schweiz festgehalten wurden, ging dabei unter. Hierzulande schaffte es die spektakuläre Verhaftung lediglich in die Randspalte einiger Welscher und Tessiner Zeitungen – die grossen Fragen blieben dabei offen: Wieso fahren Schweizer mit einem Schweizer Auto einen türkischen Mafiaboss nach Rimini? Weshalb war Boyun in der Schweiz? Und wieso konnte er sich hier frei bewegen?

Recherchen von REFLEKT zeigen: Es war nicht das erste Mal, dass sich der gefährliche Boyun mit Gewährsleuten in der Schweiz traf. Er ist nicht der einzige Mafioso, der sich hierhin zurückzieht. Und: Er hat direkte Beziehungen zu hiesigen kriminellen Organisationen.

Schweizer Verbindungen

Als das Sonderkommando in Rimini zuschlägt, verhaftet es neben Boyun auch einen 49-jährigen Schweizer wegen illegalem Waffenbesitz. Die Beamten erwischen ihn auf frischer Tat mit Pistole, Magazin und neun Patronen, Kaliber 9 mm Parabellum. Die anderen Begleiter werden laufen gelassen.

Dabei ist zumindest einer von ihnen kein unbeschriebenes Blatt: Wie REFLEKT weiss, war oder ist Ünal K.* Mitglied einer Organisation, die in der Schweiz mit illegalem Glücksspiel Millionen verdient (siehe «Der Fall AntePAY»). Ausserdem soll er enge Beziehungen zu Barış Boyun pflegen und ihn bereits mehrmals in der Schweiz empfangen haben. Das sagt ein Insider, den wir unter Wahrung höchster Sicherheitsvorkehrungen persönlich treffen konnten. Mehrere Bilder, die er uns vorgelegt hat, zeigen den türkischen Mafiaboss bei Besuchen in der Schweiz. Auf einem sitzt Boyun gemeinsam mit Ünal K. in einem Restaurant im zürcherischen Regensdorf. Auf einem anderen lächelt er beim Teetrinken freundlich in die Kamera. Diesen Teeplausch mit dem Mafiaboss hat K. auf Instagram geteilt und dafür mehr als tausend Likes erhalten. Das war am 13. Juli 2022 – drei Monate nachdem Boyun zur Fahndung ausgeschrieben wurde und drei Wochen vor seiner Verhaftung in Rimini.

Barış Boyun in einem Lokal in Regensdorf, Kanton Zürich.

Ist es normal, dass sich ein gesuchter türkischer Mafiaboss in der Schweizer Öffentlichkeit vergnügt? Einmal in den Schengen-Raum eingereist, könnten sich Personen grundsätzlich frei bewegen, hält das Bundesamt für Polizei Fedpol auf Anfrage fest. Einzig bei einem Fahndungshinweis oder durch eine zufällige Polizeikontrolle an der Landesgrenze oder innerhalb der Schweiz könnte festgestellt werden, dass eine Person gesucht wird. Sollte dies der Fall sein, würde die gesuchte Person verhaftet und in Auslieferungshaft genommen.

Von der Verhaftung Boyuns habe man Kenntnis, so das Fedpol weiter. Aus Gründen der Vertraulichkeit sowie des Personenschutzes und weil es sich um eine laufende Untersuchung der italienischen Behörden handle, könne man keine weiteren Angaben machen. Sollte es Verbindungen zur Schweiz geben, werde das Fedpol die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den zuständigen kantonalen Behörden und den italienischen Behörden sicherstellen.

Daltons in der Schweiz

Unklar ist, ob Boyuns Beziehungen in die Schweiz beruflicher oder rein freundschaftlicher Natur sind. Wie REFLEKT weiss, ist er nicht der einzige türkische Mafioso, der sich hier frei bewegt. Laut dem Insider sollen in den letzten Jahren mehrere Mitglieder der Boyun-Gang in die Schweiz eingereist sein – einige von ihnen hätten sogar eine Aufenthaltsbewilligung. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Aussagen nicht. Bilder, die wir einsehen und verifizieren konnten, zeigen mehrere Daltons bei Treffen in der Schweiz. Einige von ihnen teilen ihren Aufenthalt ganz offen über Social Media.

«Viele in der hiesigen türkischen Community wissen von diesen Beziehungen und den kriminellen Machenschaften», sagt der Insider. «Aber kaum jemand traut sich, auszusagen.» Die Angst vor Vergeltung sei gross – insbesondere bei Personen, die Verwandte in der Türkei haben.

Wie gefährlich Boyun und seine Leute auch im Ausland sein können, zeigte sich kürzlich in Frankreich. Am 6. August wurden in einem Airbnb in Châtonnay en Isère zwei türkische Staatsangehörige erschossen – einer von ihnen mit zwölf Schüssen. Die Behörden gehen von einem bandenmässigen Mord und der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung aus. Kurz nach der Tötung bekannten sich Mitglieder der Daltons via Social Media zum Mordanschlag. «Sei versichert, mein Bruder, er ist tot», schreiben sie in einem Post. «Wir haben ganz Frankreich in Aufruhr versetzt.» Ob es sich tatsächlich um einen Racheakt der Boyun-Gang handelt, werden die Behörden abschliessend klären müssen.

Zustände wie in Mexiko

Für den Insider ist klar: «Wenn nichts passiert, werden solche Konflikte auch in die Schweiz überschwappen.» Die Schweizer Behörden würden die Gefährlichkeit der türkischen Mafia-Gruppierungen komplett unterschätzen, so seine Befürchtung.

Klar ist: In der Türkei ist die Gewalt durch mafia-ähnliche Gruppierungen in den vergangenen Jahren eskaliert. Blutige Auseinandersetzungen und Schiessereien haben stark zugenommen, gehobene Restaurants in Istanbul und Antalya seien zu Treffpunkten der internationalen organisierten Kriminalität geworden. «Die Türkei wird zum neuen Mexiko», sagte der ehemalige hochrangige Polizist Adil Serdar Saçan Anfang Jahr der Tageszeitung Cumhuriyet. Kürzlich hätten Mafiosi auf ein Polizeiauto geschossen, das ein feindliches Gang-Mitglied zu einem Gerichtsgebäude gebracht habe, so der Mitgründer der Abteilung für organisierte Kriminalität der Istanbuler Polizeibehörde. Das sei ein neues Level von Gewalt.

In der Schweiz seien türkischstämmige Gruppierungen mit unterschiedlicher Ausprägung und Ausrichtung seit Jahrzehnten aktiv, schreibt das Fedpol auf Anfrage. Sie seien hauptsächlich in den Bereichen Betäubungsmittelhandel, Betrug, Geldwäscherei und illegale Geldspiele aktiv. Wie die «Republik» kürzlich bekannt machte, ermittelt die Staatsanwaltschaft Zürich wegen schwerster Gewalttaten und organisierter Kriminalität gegen Mitglieder einer kurdischen Gruppierung.

Generell habe die Schweiz die Präsenz und die Aktivitäten von Mafia-Organisationen während Jahrzehnten unterschätzt, hielt der Bundesrat 2021 fest. Fedpol-Direktorin Nicoletta della Valle sagte kürzlich gegenüber «Le Matin Dimanche», dass man von europäischen Ländern zum Handeln gegen das organisierte Verbrechen aufgefordert worden sei. Die Schweiz sei für alle Arten von organisierter Kriminalität attraktiv, so della Valle – nicht nur als Versteck oder Rückzugsort. Um das zu ändern, fordert die Fedpol-Direktorin insbesondere eine verbesserte Kommunikation mit den Kantonen. «Wir müssen auch präventiv tätig werden, indem wir Kriminelle ausweisen oder ihnen die Einreise in die Schweiz verbieten», so Nicoletta della Valle. Ausserdem brauche es mehr Ressourcen. Dem Fedpol würden rund 200 Ermittlerinnen und Ermittler fehlen, um effektiv gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus vorzugehen.

Hausarrest für den Mafiaboss

Die türkischen Behörden brüsten sich derweil mit Ermittlungserfolgen gegen die organisierte, oft grenzüberschreitende Kriminalität. Ein eigens dafür gegründetes Spezialteam der Interpol-Abteilung überwacht die Bewegungen von Flüchtigen im Ausland und ermittelt deren Aufenthaltsorte. Im September publizierte das Innenministerium eine Liste von sieben Anführern krimineller Organisationen, die auf diese Weise festgenommen wurden. Unter ihnen Barış Boyun in Rimini.

Türkische Fahndungserfolge – alle sechs Personen wurden im Ausland verhaftet.

Doch die Türkei ist kein funktionierender Rechtsstaat, Interpol-Haftbefehle wurden auch schon zu politischen Zwecken missbraucht. Zudem ist der Staat eng mit der organisierten Kriminalität verknüpft. «Die Regierung nutzt bestimmte kriminelle Märkte wie den Gold- und Ölhandel, den Menschenschmuggel und den Waffenhandel häufig zu ihrem eigenen Vorteil und für politische Zwecke», schreibt die von der EU unterstützte globale Initiative gegen transnationales organisiertes Verbrechen GI-TOC. Die Türkei sei zu einer Art Mafia-Staat verkommen.

Unsere Anfragen an die Interpol- und Europol-Ableger in Ankara blieben unbeantwortet. Inwiefern die türkischen Behörden mit der Schweiz kooperieren, welche Rolle die Schweiz bei ihren Ermittlungen spielt und was die Daltons hier tun, bleibt offen.

Boyun selbst wurde laut der gut informierten türkischen Zeitung «Habertürk» im April dieses Jahres aus der Haft entlassen. Zuvor hatte das Berufungsgericht von Bologna ein Auslieferungsgesuch der Türkei abgelehnt. Der Mafiaboss hatte behauptet, ein verfolgter kurdischer Politiker zu sein und auf die unzulässigen Haftbedingungen in seinem Heimatland verwiesen. Die Zusicherungen der türkischen Justizbehörde zu den Haftbedingungen, denen Boyun ausgesetzt sein würde, reichten der italienischen Justiz nicht aus. Wir wollten von der Staatsanwaltschaft in Rimini wissen, was der aktuelle Stand des Verfahrens sei – bis zu Redaktionsschluss blieb jede Antwort aus. Die Zeitung «Habertürk» berichtet, dass man Boyun Hausarrest auferlegt habe. In Rimini könne er sich frei bewegen.

* Name geändert

 

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Christian Zeier

Recherche & Text