Eine Asyl-Odyssee, die alles ändern könnte

REFLEKT-Recherchen zeigen: Erstmals muss sich die Schweiz mit dem Fall eines abgewiesenen Asylsuchenden beschäftigen, der nach seiner Rückkehr in Eritrea gefoltert wurde. Wie konnte es dazu kommen?  Eine zweijährige Recherche auf zwei Kontinenten.

Publikationen
4.5.2022, Republik:
«Ein Asylfall der alles ändern könnte»
3.5.2022, 10 vor 10:
«Ein Eritrea-Rückkehrer erzählt von Misshandlungen»
8.4.2020, REFLEKT:
«Zurück in die Diktatur»

Tesfay* trägt den weissen Umhang eines Mönchs, als er an diesem Morgen im Dezember die Lobby unseres Hotels in Addis Abeba durchschreitet. Er betritt den metallenen Lift neben der Rezeption, fährt hinauf in den fünften Stock und steht dann vor einer Fensterfront, die den Blick auf das aufstrebende Viertel Bole freigibt: breite Strassen, kleine Kaffees, Shoppingzentren und Baustellen, auf denen meist chinesische Firmen Hochhäuser in den Himmel über der äthiopischen Hauptstadt ziehen.

Tesfay jedoch interessiert das nicht.

Der Mann Mitte fünfzig eilt in den angrenzenden Festsaal, wo neben trostlos aufeinander gestapelten Stühlen auch eine Kamera auf ihn wartet. Hier wird er in den kommenden zwei Stunden sein Leben ausbreiten. Zumindest die schwierigen Teile davon.

Warum er in die Schweiz geflohen ist.
Wieso er freiwillig in eine Diktatur zurückkehrte.
Und wieso er diese erneut verlassen hat.

Tesfay ist der erste Eritreer, der öffentlich davon erzählt, worüber in der Schweiz sonst nur spekuliert werden kann: Was passiert mit einem, der aus Eritrea flieht und dann wieder dorthin zurückkehrt?

Während knapp zweier Monate haben wir dieses Treffen vorbereitet. Wir haben Vertrauen aufgebaut, einen sicheren Ort organisiert und dafür gesorgt, dass Tesfay seine Geschichte anonym und ohne Angst vor den Behörden erzählen kann. Dennoch ist er vorsichtig in den ersten Minuten, gibt kurze Antworten und blockt Fragen nach seiner Jugend ab. Denn eigentlich hat Tesfay abgeschlossen – mit Eritrea, mit der Schweiz, sogar mit seinem Leben. «Ich will nur noch Gott nahe sein», sagt er. «Ich bin ohne Hoffnung und hasse es, zu leben.»

Doch jetzt droht seinem Sohn dasselbe Schicksal wie ihm: die Wegweisung aus der Schweiz und die Rückkehr in die eritreische Diktatur. Im Entscheid schreibt das Staatssekretariat für Migration (SEM), dass bereits der Vater ins Heimatland zurückgekehrt sei und in Eritrea lebe. Das würde die Rückkehr des Sohnes erleichtern. Deshalb ist Tesfay hier: Er will den Irrtum korrigieren und seine Geschichte ein letztes Mal erzählen.

Je länger er spricht, desto ausführlicher werden die Antworten. Nur einmal versagt Tesfay die Stimme. «Ich habe mein Bestes gegeben, um von der Schweizer Regierung akzeptiert zu werden», sagt der Mann. «Aber ich habe versagt. Und jetzt leidet meine ganze Familie darunter.» Dann beginnt er zu weinen.

Ein Flugticket und Tausende Franken in bar

Dass sich die Schweizer Politik, Justiz und Öffentlichkeit seit Jahren mit Eritrea beschäftigen, hat vor allem drei Gründe.

Erstens war Eritrea zwischen 2011 und 2020 ununterbrochen das wichtigste Herkunftsland von Asylsuchenden in der Schweiz.

Zweitens wird darüber gestritten, wie schlimm die Menschenrechts­lage in Eritrea ist und was Menschen erwartet, denen die Schweiz keinen Schutz gewährt. Nach wie vor erhalten die meisten eritreischen Asylsuchenden in der Schweiz entweder Asyl oder eine vorläufige Aufnahme. Doch seit 2016 ist das SEM deutlich strenger und fällt anteilsmässig mehr negative Entscheide. Mehrere tausend Eritreerinnen hätten die Schweiz seither verlassen müssen – im Vergleich zu Ländern wie Deutschland oder Grossbritannien schätzt die Schweiz die Rückkehr nach Eritrea weniger problematisch ein.

Drittens kehren dennoch kaum Eritreer in ihr Heimatland zurück. Freiwillig gehen nur ganz wenige, und unfreiwillige Rückkehrerinnen – sprich Ausschaffungs­flüge – akzeptiert das Regime in Asmara nicht.

Die Schweiz weist also immer mehr Menschen weg, kann sie aber nicht zur Ausreise zwingen. Das ist in etwa so, als würde jemand zu einer Gefängnis­strafe verurteilt und könnte dann selbst entscheiden, ob er sie antreten will.

Die Folge davon: Immer mehr abgewiesene Asylsuchende tauchen unter, reisen in andere Länder weiter oder landen in der Schweiz in der Nothilfe. 2017 waren Eritreer erstmals die grösste Gruppe von Nothilfe­beziehenden. 2018 waren es über 800, die nur noch das Nötigste zum Überleben bekamen und in zugewiesenen Unterkünften leben mussten, ohne Erwerbs­möglichkeit, ohne Aussicht auf Integration.

Weil diese Menschen die Schweiz nicht verlassen, kommt es immer wieder zu Forderungen, die Rückkehr nach Eritrea zu fördern – oder gar zu forcieren. «Ich denke, wenn man ein bisschen Geld in die Hand nimmt, könnten diese Leute auch zu Zehntausenden freiwillig und mit Würde in ihr Heimatland zurückkehren», sagte die SVP-Nationalrätin Barbara Steinemann gegenüber der SRF-Sendung Rundschau. «Der Bund hat dafür zu sorgen, dass die Kantone die Wegweisungen vollziehen können», liess sich Urs Betschart, Vizepräsident der Vereinigung der kantonalen Migrationsbehörde, in der NZZ zitieren. Und Toni Locher, Honorarkonsul und Sprachrohr der eritreischen Regierung in der Schweiz, forderte in der SonntagsZeitung: «Der Bund muss rasch eine freiwillige Rückkehr nach Eritrea organisieren.»

Weil kaum jemand an ein Rücknahme­abkommen mit Eritrea glaubt, tun die Schweizer Behörden einiges dafür, die sogenannt freiwillige Rückkehr zu fördern.

Einerseits wird den Betroffenen das Leben in der Schweiz schwergemacht. Andererseits gibt es für Rückkehr­willige ein kostenloses Flugticket nach Eritrea sowie 3000 bis 5000 Franken in bar. 2020 erhielten abgewiesene Asylsuchende im Kanton Bern gar ein besonderes Angebot: Wer sich bis zu einem gewissen Datum für eine selbstständige Rückkehr anmeldete, hätte von einer erhöhten finanziellen Rückkehr­hilfe profitieren können. Gewirkt hat der Anreiz nicht: «Das Angebot hat allgemein kaum Anklang gefunden», schreibt die Rückkehr­beratung des Kantons Bern auf Anfrage, «und von Eritreern haben wir gar keine neuen Anmeldungen erhalten.»

Weshalb also weigern sich Menschen ohne Perspektive in der Schweiz, in ihr Heimatland zurückzukehren? Was erwartet sie in der Diktatur?

Die eritreische Regierung hat wiederholt erklärt, dass illegal ausgereiste Landsleute straffrei zurückkehren können, wenn sie gewisse Bedingungen erfüllen. So müssen sie etwa eine Steuer für den Wiederaufbau des Landes zahlen oder einen sogenannten letter of regret unterschreiben, der einem Schuld­eingeständnis gleichkommt. Weil die illegale Ausreise eine Straftat sei, so die eritreischen Behörden, könne es in einigen Fällen zu «angemessenen, wenn auch milden Strafen» kommen («appropriate, though lenient, penalties»).

Die Schweizer Behörden lehnen sich offenbar an diese Argumentation an. Seit 2016 sieht das SEM die illegale Ausreise aus Eritrea allein nicht mehr als Grund, um in der Schweiz als Flüchtling anerkannt zu werden. Das SEM geht davon aus, dass gewisse geflohene Personen freiwillig zurückkehren können, ohne in Eritrea eine unverhältnismässige Strafe fürchten zu müssen.

«Eritreer, die eine Wegweisung erhalten haben, können jederzeit freiwillig zurückkehren», sagte SEM-Chef Mario Gattiker Ende 2019 gegenüber der NZZ. Jedes Asylgesuch werde sorgfältig und einzeln geprüft, ergänzt SEM-Sprecher Daniel Bach auf Anfrage. Wegweisungen würden nur ausgesprochen, wenn das SEM dabei zum Schluss komme, dass die betroffene Person in der Heimat keine konkrete Bedrohung erwartet.

Dass dies bestenfalls eine blauäugige Sicht auf die Lage ist, zeigt diese Geschichte.

Obschon es gewisse Anzeichen einer Öffnung gibt, ist Eritrea immer noch eines der am stärksten abgeschotteten Länder der Welt. Klar ist, dass das Land unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen Fortschritte bei der Erreichung gewisser Entwicklungsziele gemacht hat – besonders im Gesundheits- und Bildungssektor.

Klar ist aber auch, dass eine einzige Partei mit eiserner Faust regiert. Dass die Menschen nicht wissen, wie lange sie den obligatorischen Nationaldienst leisten müssen, der nach internationalem Recht durchaus als Zwangsarbeit gewertet werden kann (mehr dazu im dritten Teil dieser Serie). Dass jegliche politische Opposition unterdrückt wird und dass es keine Medien- und Meinungsfreiheit gibt.

So wurden in der Vergangenheit zahlreiche kritische Journalisten und Politiker ohne Verfahren ins Gefängnis gesteckt. Von vielen Inhaftierten weiss man nicht einmal, ob sie noch am Leben sind. Diese Menschenrechts­verletzungen werden von niemandem bestritten, der sich ernsthaft mit Eritrea auseinandersetzt. Weniger klar ist, in welchem Ausmass und wie systematisch sie begangen werden.

Mit ganz wenigen Ausnahmen basiert die Einschätzung der Menschenrechts­lage auf Zeugen­aussagen. Es gibt Vorwürfe von Folter und Zwangsarbeit, von systematischen Misshandlungen und aussergerichtlichen Hinrichtungen – aber kaum Dokumente, Bilder oder Videos, die dies belegen. Hinzu kommt, dass Eritrea internationalen Beobachtern den Zugang zu seinen Gefängnissen verwehrt und es unabhängigen Organisationen unmöglich macht, die Rückkehr geflohener Eritreerinnen vor Ort zu überwachen.

In den Jahren 2015 und 2016 hat die eritreische Regierung Gespräche zwischen freiwillig zurückgekehrten Personen und europäischen Delegationen organisiert – darunter auch eine Fact-Finding-Mission der Schweiz. Vertreter des Regimes waren anwesend und haben Interviewpartner sowie Übersetzer organisiert. Sogar das SEM schreibt, dass die Aussagen unter diesen Umständen «mit Vorsicht» zu behandeln seien. Ein Ersuchen, mit Rückkehrern aus der Schweiz zu sprechen, wurde abgelehnt.

In einem 2019 publizierten Bericht kommt das SEM zum Schluss: «Eine Überwachung zurückgekehrter ehemaliger Asylbewerber ist nicht möglich. Dies bedeutet, dass es an wesentlichen Informationsquellen (…) fehlt.» Und: «Eine Quelle besagt, dass Gerüchten zufolge einige inhaftiert sind und andere nicht. In den meisten Fällen gibt es jedoch keinerlei Informationen.»

Deshalb sind wir im Dezember 2019 nach Äthiopien gereist.

Im Nachbarland Eritreas, einem Staat mit 112 Millionen Einwohnern, lebt etwa ein Viertel der geschätzt 600’000 geflohenen Eritreer:innen. Die Kulturen der beiden Länder ähneln sich stark, und Äthiopien verfolgte lange Zeit eine Politik der Offenheit gegenüber geflohenen Eritreern. Hier können sie offen über ihre Heimat sprechen – unabhängig vom Druck einer westlichen Asylbehörde oder ihrer eigenen Regierung. Hier kann Tesfay seine Geschichte ohne Angst erzählen.

Im Juni 2014 betritt Tesfay erstmals Schweizer Boden. Über den Sudan, die Sahara, Libyen, das Mittelmeer und Italien landet er zuerst im Empfangs­zentrum Chiasso, dann im Durchgangs­zentrum Friedeck in Buch SH und zuletzt in der Asyl­unterkunft Neunkirch bei Schaffhausen. Hier bleibt er vier Jahre. Die ersten zwei wartet er auf seinen Asylentscheid – die anderen zwei kämpft er gegen diesen an. Denn das SEM hält Tesfay nicht für politisch verfolgt, weist sein Asylgesuch ab und lässt ihn nur aus humanitären Gründen als sogenannt vorläufig aufgenommenen Ausländer in der Schweiz leben.

Das erschwert ihm den Aufenthalt mehrfach. Erstens findet er keine Arbeit und erhält mit seinem Status nur eine reduzierte Sozialhilfe. Zweitens ist bei vorläufig aufgenommenen Ausländern der Familien­nachzug eingeschränkt. Während Tesfay noch um einen besseren Aufenthalts­status kämpft, flieht auch sein Sohn aus Eritrea. Weil der Vater ihn nicht regulär in die Schweiz holen kann, nimmt auch er den gefährlichen Weg durch die Wüste und über das Mittelmeer auf sich.

Und drittens kann Tesfay mit seinem Status und der Abhängigkeit von der Sozialhilfe seinen Wohnort nicht frei wählen. «Ich bin ein alter Mann und brauche meine Familie», sagt er. «Deshalb wollte ich bei meinem Sohn sein. Aber sie haben uns nicht erlaubt, zusammenzuleben.»

Vier Jahre nach seiner Ankunft in der Schweiz gibt Tesfay auf. «Ich bin gegangen, weil es mir schlecht ging», sagt er. «Ich war erstaunt, dass so was ausgerechnet dort passiert, wo Recht und Demokratie herrschen.» Er entscheidet sich für die freiwillige Rückkehr und wählt damit das seiner Ansicht nach kleinere Übel: Diktatur statt Ohnmacht und Perspektiv­losigkeit.

So wie Tesfay haben in den letzten Jahren wenige hundert Eritreerinnen und Eritreer die Schweiz kontrolliert und selbstständig verlassen – wie viele von ihnen tatsächlich in ihre Heimat zurückgekehrt sind, kann das SEM nicht sagen.

Am zweiten Tag in Eritrea kommt der Brief

Im Juni 2018 fliegt Tesfay von Zürich aus nach Istanbul und von dort in die eritreische Hauptstadt Asmara. «Ich fühlte mich traurig, etwas ängstlich und hoffnungslos», erinnert er sich. Eigentlich wollte er lieber nach Äthiopien reisen, doch als eritreischer Staatsangehöriger ohne Reisepass steht ihm diese Option nicht offen.

Am Flughafen von Asmara trifft Tesfay erstmals seit seiner Flucht wieder auf uniformierte Beamte seines Heimatlandes. Sie nehmen seine Personalien auf, wollen wissen, woher er komme, wie er heisse und wo er wohnen werde. Tesfay gibt die Adresse seines Bruders an. «Eritrea hat mich ganz gewöhnlich begrüsst», sagt er. «Das ist ihr System. Sie machen keinen grossen Aufruhr am Flughafen. Sie wissen, dass sie dich auch später holen können.»

Mit einem mulmigen Gefühl reist er in das Dorf seines Bruders und sieht dort nach Jahren seine Verwandten wieder. Man erzählt ihm Geschichten von Rückkehrern, die brieflich vorgeladen und dann in den berüchtigten Gefängnissen inhaftiert wurden. Als er am zweiten Tag seines Aufenthalts ins Haus des Bruders zurückkehrt, liegt dort ein Brief mit einem blauen runden Stempel der Verwaltungsregion Süd. Ein Beamter der Subregion Senafe hat ihn vorbeigebracht. Es ist eine kurze, auf dem Computer geschriebene Nachricht: «Bitte melden Sie sich unverzüglich beim Verwaltungsbüro der Subregion.»

Als Tesfay den Brief liest, ist er geschockt. Obwohl er eigentlich bei seiner Familie leben wollte, entscheidet er sich noch am selben Tag, Eritrea wieder zu verlassen. In der Nacht überquert er die Grenze nach Äthiopien, doch anders als bei seiner ersten Flucht hat er nun kein Ziel mehr. Weil er jede Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben hat, lässt er sich in einem Kloster nieder. «Wenn ich dem Aufgebot gefolgt wäre, würde ich jetzt nicht hier sitzen und mit euch sprechen», sagt er. «Ich weiss nicht, ob sie mich ins Gefängnis stecken, umbringen oder als Soldaten dienen lassen wollten. Ich weiss nur, dass mich nichts Gutes erwartet hätte. Deshalb bin ich wieder gegangen.»

Letzte Frage an Tesfay, bevor er das Hotel in Adis Abeba verlässt und sich auf den Weg zurück in sein Kloster macht: «Hat jemand aus der Schweiz versucht, dich nach deiner Rückkehr zu kontaktieren?» – «Nein, keiner hat gefragt.»

Kein Einzelfall

Und genau hier liegt das Problem. Nach der Rückkehr verschwinden die Menschen im nach wie vor stark abgeschotteten Land, ein Monitoring zu ihrem Schutz existiert nicht. Die Schweizer Behörden wissen kaum etwas darüber, was mit den abgewiesenen Asylsuchenden in Eritrea passiert. Das Staats­sekretariat für Migration kann bis heute keine dokumentierten Fälle von Zurück­gekehrten vorweisen, die unbehelligt geblieben sind.

Selbst in seinem eigenen Eritrea-Länderbericht von 2019 erwähnt das SEM, es sei möglich, dass illegal ausgereiste Eritreer bei ihrer Rückkehr schwerwiegende Konsequenzen zu befürchten hätten. Auf Seite 56 etwa: «Einige Personen werden verhaftet und in eine Polizeistation oder ein Gefängnis in der Innenstadt von Asmara gebracht.» Oder auf Seite 60: «Eine andere Quelle verfügt über Kenntnisse von Fällen von Rückkehrern (…), die kurz nach ihrer Ankunft inhaftiert wurden. Berichten zufolge wurden sie im Gefängnis verhört und gefoltert und später in eine Militäreinheit geschickt; ein Teil von ihnen floh wieder aus dem Land.»

Wieso also schicken die Schweizer Behörden Menschen in ein Land zurück, von dem sie wissen, dass dort Willkür herrscht und gefoltert wird? Die Antwort des SEM ist immer dieselbe: Man prüfe den Einzelfall. Es komme in Eritrea zu Menschen­rechts­verletzungen, doch dies allein sei kein ausreichender Grund, anzunehmen, dass eine Person bei der Rückkehr Opfer von Folter werde. Weggewiesen würden nur Asylsuchende, bei denen keine stichhaltigen Gründe für die Annahme einer konkreten und ernsthaften Gefahr bestünden. Ein Monitoring der Rückkehrer halte man weder für notwendig noch für umsetzbar. Gäbe es Rück­meldungen, würde man diese prüfen, sagt SEM-Sprecher Daniel Bach. «Bislang haben wir aber keine erhalten.»

Unsere Recherche zeigt jedoch: Es ist durchaus möglich, Informationen über den Verbleib der Rückkehrerinnen und Rückkehrer zu sammeln. Und: Was Tesfay erlebt hat, ist kein Einzelfall.

Als wir Mitte 2019 begannen, nach zurückgekehrten Personen zu suchen, wurden wir mit zahlreichen Geschichten und Gerüchten konfrontiert. Fünf davon konnten wir in den darauffolgenden Monaten soweit rekonstruieren und verifizieren, dass wir davon ausgehen können, dass sie der Wahrheit entsprechen.

Von zwei Personen, die aus der Schweiz nach Eritrea zurückgekehrt sind, fehlt jede Spur. Drei weitere sind aus der Schweiz zunächst nach Eritrea zurückgekehrt und danach erneut aus dem Land geflohen.

Einer von ihnen ist Tesfay, der uns in Addis Abeba seine Geschichte persönlich erzählte.

Ein weiterer Mann kehrte 2016 nach Eritrea zurück, wurde dort mehrere Monate in einem berüchtigten Gefängnis inhaftiert und floh dann erneut über die Grenze. Zwischen Juli und Oktober 2019 befand er sich laut Zeugen­aussagen in Äthiopien – dann wurde er wegen schwerer psychischer Probleme von seiner Familie nach Eritrea zurückgebracht.

Der Fall des fünften Rückkehrers ist der brisanteste.

Mehr als zwei Jahre nach dem Gespräch mit Tesfay treffen wir in Zürich den 35-jährigen Yonas*. An einem Montagabend im April 2022 sitzt der Eritreer auf dem Bett seines 1-Zimmer-Appartments und sagt: «Ich habe zu viel gelebt.» Dann lässt er die vergangenen zehn Jahre seines Lebens Revue passieren.

Wie er ein erstes Mal aus Eritrea flüchtete.
Wie er Freunde an die Wüste verlor, ohne sie begraben zu können.
Wie er in der Schweiz Asyl beantragte und weggewiesen wurde.
Wie er Putzmittel trank, um sein Leben zu beenden.
Wie er durch Zufall überlebte und zur Ausreise gedrängt wurde.
Wie er in Eritrea Folter und Haft erlebte.
Und wie er dann, nach der zweiten Flucht, erneut in der Schweiz landete.

«Ich habe den Schweizer Behörden gesagt, dass man mich nach der Rückkehr nach Eritrea vielleicht tötet», sagt Yonas. «Aber sie haben mir nicht geglaubt.»

Zum Zeitpunkt des Gesprächs kennen wir den jungen Mann schon seit mehr als zwei Jahren. Bereits 2019 haben wir ihn nach seiner zweiten Flucht in Griechenland aufgespürt, seine Geschichte rekonstruiert und verifiziert. Damals erzählte Yonas von seiner Zeit in der Schweiz, der Rückkehr nach Eritrea, seiner Inhaftierung und der darauffolgenden Flucht. Seine Erzählungen waren nicht sehr ausführlich, auf Nachfrage konnte er aber Geschehnisse oder Orte detailliert beschreiben. So etwa die Folter, kurz nach seiner Ankunft in der eritreischen Hauptstadt Asmara: Sie hätten ihn in einen Raum gebracht, die Hände hinter seinem Rücken gefesselt, sagt er. «Dann banden sie mich an einen Stuhl und schlugen mich.» Unter anderem habe einer mit einem Gürtel auf Rücken und Schultern eingeschlagen, der andere mit einem Stock auf Kopf und Beine. Zwei Wochen später hätten sie ihn ins Gefängnis Adi Abeito gebracht, von wo er schliesslich fliehen konnte.

Bis heute zeugen Narben an Yonas’ Beinen von dieser Nacht. Die chronischen Schmerzen erträgt er nur dank Medikamenten.

Wir schätzten Yonas damals als glaubwürdig ein, seine Erzählung als substanziiert, plausibel und schlüssig. Doch solange er sich ausserhalb der Schweiz befand, interessierten sich die hiesigen Behörden nicht für seinen Fall. «Herr Y. hat die Möglichkeit, in seinem Aufenthaltsland ein Asylgesuch einzureichen», schrieb das SEM, als er sich 2019 aus Griechenland an die Behörden wandte. Man habe sein Asylverfahren abgeschlossen, er könne nicht legal in die Schweiz zurückkehren.

Wir blieben mit Yonas in Kontakt und verfolgten seinen Weg aus der Ferne. Wie er in Athen mit Gelegenheitsjobs über die Runden kam. Wie seine eritreische Freundin, die er in Griechenland kennengelernt hatte, in die Schweiz einreiste. Wie sie hier ihr gemeinsames Kind zur Welt brachte – und Yonas sich immer verzweifelter anhörte.

Bis eines Tages im Juli 2021 eine WhatsApp-Nachricht alles änderte: «Lieber Christian, wie geht es dir?», schrieb Yonas. «Ich komme in die Schweiz. Ich bin hier. Ich bin hier in der Schweiz.»

Allen Widerständen zum Trotz hatte er es geschafft. Genau so, wie wir damals Yonas’ Geschichte verifiziert hatten, musste das Staatssekretariat für Migration nun seine Erzählung prüfen. Würde es ihn ablehnen, weil es die Geschichte der Folter und Inhaftierung nicht für glaubhaft hält? Oder würde Yonas Asyl erhalten und damit die Bestätigung, dass seine Wegweisung ein Fehler war? Dass die Schweiz ihn damals in die Hände seiner Folterer schickte?

Denn im negativen Asylentscheid vom 12. Juli 2017 hatte das SEM nicht nur festgehalten, dass Yonas aufgrund widersprüchlicher Angaben und mangelnder Glaubhaftigkeit die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllt. Dort steht auch, dass sich aus den Akten keine Anhalts-punkte ergeben, dass dem Eritreer im Falle einer Rückkehr «mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine durch Art. 3 EMRK verbotene Strafe oder Behandlung droht». Der Vollzug der Rückkehr stelle keine konkrete Gefährdung dar und sei zumutbar. Yonas sei demzufolge zur Ausreise und damit zur Rückkehr in die eritreische Diktatur verpflichtet.

2018 gibt Yonas auf und kehrt in sein Heimatland zurück. «Nach all den negativen Entscheiden war ich komplett demoralisiert», sagt er. «Ich dachte: Entweder sterbe ich in der Schweiz oder ich sterbe eben in Eritrea.»

Doch es kommt anders. Yonas gelingt die erneute Flucht, und er beantragt im Oktober 2021, sechs Jahre nach seinem ersten Gesuch, zum zweiten Mal Asyl in der Schweiz. Mit der Inhaftierung und der Folter nach seiner Rückkehr sowie dem Besuch einer regierungs­kritischen Demonstration in Genf macht er neue Asylgründe geltend und reicht neben einer Registrierungs­karte aus dem Sudan auch einen Artikel ein, den wir über ihn publiziert haben. Zwei Monate später ist klar: Yonas erhält Asyl und wird als Flüchtling mit Status B anerkannt.

Das Staatssekretariat für Migration geht also davon aus, dass er in Eritrea ernsthaften Nachteilen ausgesetzt ist oder begründete Furcht haben muss, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Darunter fallen: die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Mehr ist über den positiven Entscheid nicht bekannt. Sowohl Yonas als auch uns hat das Staats­sekretariat Einsicht in die Begründung verwehrt – eine Praxis, die Usus ist und vom Bundes­verwaltungs­gericht gestützt wird.

Würde seine Erzählung von Inhaftierung und Verfolgung aufgrund seines politischen Engagements grundsätzlich angezweifelt, hätte Yonas kaum die Flüchtlings­eigenschaft zugesprochen erhalten. Inwiefern das Staats­sekretariat für Migration aber für den Fehlentscheid verantwortlich ist, bleibt unklar. Yonas hat bei seinem ersten Asylgesuch widersprüchliche Aussagen gemacht und etwa nicht erwähnt, dass er an einer regierungs­kritischen Demonstration in Genf teilgenommen hatte. Sprecher Daniel Bach weist darauf hin, dass das SEM auf korrekte und vollständige Angaben angewiesen ist, um die konkrete Gefährdung einer Person einschätzen zu können.

Für die Juristin Nora Riss von der Freiplatz­aktion, die Yonas im Asyl­verfahren vertreten hat, ist klar: «Die Risiko­einschätzung war in diesem spezifischen Fall falsch.» Es stelle sich die Frage, aufgrund welcher zuverlässigen Quellen diese und andere Einschätzungen vorgenommen worden seien. «Wenn die Quellen­lage unsicher ist, muss man eher vorsichtig sein und zugunsten der Asyl­suchenden entscheiden», sagt Riss. Ansonsten riskiere man genau solche Fälle, in denen Personen nach der Rückkehr gefoltert werden. Andere Länder seien in dieser Frage vorsichtiger, was die Schweizer Asylpraxis zu einer der schärfsten in ganz Europa mache.

Die Angst bleibt

Zweifellos gibt es Eritreerinnen, die nach einem negativen Asylentscheid gefahrlos in ihr Heimatland zurück­kehren können. Doch nicht alle, die tatsächlich gefährdet sind, können das gegenüber dem SEM glaubhaft machen. So wie Yonas. Oder wie die beiden Asylsuchenden, deren Fälle in den letzten Jahren vor dem Uno-Ausschuss gegen Folter (CAT) landeten. 2021 und 2022 kam das Gremium in zwei Urteilen zum Schluss, dass die Schweiz mit einer Wegweisung nach Eritrea die Antifolter­konvention der Uno verletzt hat.

Unsere Recherche wirft zahlreiche Fragen auf: Wussten das SEM und das Bundes­verwaltungs­gericht genug über die Lage in Eritrea, um einschätzen zu können, wie gefährlich es für jene Menschen ist, die sie dorthin zurückschicken wollen? Wie will die Schweiz diese Menschen dazu bringen, zurückzukehren, wenn sie kein Beispiel einer problemlosen Rückkehr vorlegen kann? Ist es unter diesen Umständen vertretbar, die freiwillige Rückkehr zu fördern? Und weshalb wissen die Schweizer Behörden so wenig über ihre Rückkehrer, wenn es doch möglich ist, sie aufzuspüren?

Ob die Erzählungen der Rückkehrer die Asylpraxis verändern werden, ist unklar. «Die Praxis wird dann angepasst, wenn neue Erkenntnisse zur Bedrohungs­lage in einem Land vorliegen oder wenn das Bundes­verwaltungs­gericht einen Entscheid des SEM in genereller Weise korrigiert», heisst es vonseiten des Staats­sekretariats für Migration. Einen Wegweisungs­stopp würde es dann geben, wenn man zum Schluss käme, dass alle Leute, die zurück­kehren, konkret bedroht sind. Das sei aktuell nicht gegeben, sagt Sprecher Daniel Bach. «Selbstverständlich schauen wir uns aber den Fall an. Falls die Bedrohungs­lage anders geworden ist, könnte dies in letzter Konsequenz auch zu einem Wegweisungs­stopp führen.» Es bestehe aber auch die Möglichkeit, dass dem SEM im Asylverfahren Informationen vorenthalten worden seien, die für die Einschätzung wichtig gewesen wären.

Weder für Tesfay noch für Yonas spielt das eine Rolle. Während der eine mit seinem alten Leben abgeschlossen hat, will der andere ein neues beginnen. Yonas lernt fleissig Deutsch und möchte möglichst bald eine Lehre beginnen. «Ich bin okay», sagt er. «Zum ersten Mal fühle ich mich nicht unsicher in der Schweiz.» Zwar schlafe er schlecht, leide an den Schmerzen der Folter und träume oft von Menschen, die er zurück­lassen musste. Seine grösste Angst aber ist eine andere: «Bitte zeigt mein Gesicht nicht und nennt mich nicht beim Namen», sagt er zum Abschied. «Sonst passiert meiner Familie in Eritrea das, was ich erleben musste.»

*Name zum Schutz der Person geändert

Teile dieser Recherche sind im April 2020 und Mai 2022 im Online-Magazin Republik sowie im Mai 2022 in der SRF-Sendung 10 vor 10 erschienen.

 

Christian Zeier

Recherche & Text

Florian Spring

Fotografie & Video

Valentin Felber

Video

Kathrin Winzenried

Journalistin SRF

Republik

Redaktion & Publikation