Schweizer Ermittler bei den Taliban

Die Schweizer Behörden gefährden Personen, die aus Afghanistan fliehen. Im Rahmen des Familiennachzugs holen sie Informationen beim Taliban-Regime ein – ein unnötiges Risiko, wie unsere Recherche zeigt.

Das Wichtigste in Kürze

  1. Wer in der Schweiz Asyl erhält und Familie in einem anderen Land hat, darf diese grundsätzlich nachziehen. In Afghanistan sind das meist Frauen und Kinder.
  2. Weil es in Afghanistan keine Schweizer Botschaft gibt, muss die fliehende Person nach Pakistan reisen und dort die nötigen Dokumente einreichen.
  3. Unsere Recherche zeigt: Um die Informationen zu prüfen, schickt die Schweiz private Ermittler nach Afghanistan. Diese kontaktieren auch die Behörden der Taliban.
  4. Der Prozess dauert bis zu zwei Jahre – in dieser Zeit müssen Betroffene nach Afghanistan zurückkehren, wo die Taliban mit grosser Wahrscheinlichkeit über die Fluchtabsicht informiert sind.
  5. Das Vorgehen der Schweizer Behörden gefährdet die Betroffenen und wäre eigentlich nicht nötig, wie mehrere Kantone bestätigen.

Eine ausführliche Version dieses Artikels erscheint am 5. Oktober 2023 in der Schweiz-Ausgabe der „Zeit“  sowie bei Zeit Online (Zugang zahlungspflichtig).

«In den letzten zwei Jahren habe ich graue Haare bekommen von all dem Stress», sagt Hafiz Taban. Während zwei Jahren hat der 34-jährige Afghane alles dafür getan, dass seine Verlobte in die Schweiz kommen kann. Ständig habe ihn die Angst begleitet. «Jeden Tag explodieren Bomben vor Ort», so Taban. «Jeden Tag rufst du an und fragst, ‘Bist du gesund? Bist du noch am Leben?’». Dabei wäre der Familiennachzug eigentlich Formsache gewesen.

Hafiz Taban ist eine von sechs Personen, die mit REFLEKT über den Familiennachzug aus Afghanistan gesprochen haben. Ihr Vorwurf: Die Schweizer Behörden gefährden wissentlich Personen, die vor dem Taliban-Regime fliehen.

Hafiz Taban in seinem Zuhause in Ostermundigen. Bild: Florian Spring für Die Zeit.

4.10.2023, Die Zeit: Amtshilfe von Terroristen

Weil es in Afghanistan keine Schweizer Botschaft gibt, müssen Gesuchstellende ihre Dokumente persönlich auf der Botschaft im benachbarten Pakistan einreichen. Die Behörden lassen die Informationen in einem ausführlichen Verfahren prüfen und schicken dazu private Ermittler nach Afghanistan. Diese sprechen auch bei den Behörden des Taliban-Regimes vor, wie REFLEKT-Recherchen zeigen. Der Prozess dauert bis zu zwei Jahre. In dieser Zeit müssen die fliehenden Personen nach Afghanistan zurückkehren, wo die Taliban mit grosser Wahrscheinlichkeit über die Fluchtabsicht informiert sind.

Sie sei entsetzt über dieses Vorgehen, sagt Samira Hamidi, Afghanistan-Expertin bei Amnesty International. Ein privater Ermittler, der im Dorf verdächtige Fragen stelle und bei den Taliban-Behörden vorspreche, handle geradezu fahrlässig.

Mit diesem Vorwurf konfrontiert, scheibt das Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten: Die Ermittler seien selbst Afghanen und «wissen, wie sie sich in ihrem eigenen Land zu verhalten haben.» Zudem würden sie sehr gut verstehen, «dass Diskretion geboten ist».

Für Samira Hamidi hingegen ist klar: Besonders in einem Dorf sei es unvorstellbar, dass die Taliban nicht von solchen Ermittlungstätigkeiten erfahren würden.

Unsere Recherchen zeigen zudem, dass der gefährliche Prozess nicht zwingend nötig wäre. Laut Mei Yi Lew, Juristin bei der Rechtsberatungsstelle AsyLex, liegt der Entscheid im Kompetenzbereich der Kantone. Sie habe mehrere Fälle erlebt, in denen der zuständige Kanton auf ein persönliches Gesuch in Pakistan verzichtet und die Dokumente nachträglich in der Schweiz geprüft hat.

Rückfragen bei den Kantonen bestätigen, dass es Handlungsspielraum gibt: Das kantonale Migrationsamt St. Gallen schreibt, dass von Frauen und Kindern aktuell nicht erwartet werden könne, alleine nach Pakistan zu reisen, um ein Einreisegesuch zu stellen. Die Dokumentenprüfung erolge daher in der Schweiz und es werden keine Ermittler nach Afghanistan geschickt. Auch der Kanton Waadt bestätigt, dies in Einzelfällen so handzuhaben.

Der Journalist Balz Oertli ist Mitglied des Recherchekollektivs WAV.

Hat dir dieser Artikel gefallen? Unterstütze unsere Arbeit mit einer Spende

 
REFLEKT ist gemeinnützig. Alle Beiträge sind steuerlich absetzbar.
Reflekt Magazin #2

Bist du mit an Bord?

Tausende Kreuzfahrtschiffe und Frachter werden von der Schweiz aus kontrolliert. Unterstütze jetzt unsere grosse Schifffahrts-Recherche und sichere dir eine Ausgabe des limitierten REFLEKT-Magazins.

Jetzt unterstützen Mehr erfahren...

Reflekt Magazin #2
Balz Oertli (WAV)

Recherche & Text

Wakil Kohsar (Getty Images)

Titelbild

Florian Spring

Porträt