Steigende Wohnkosten setzen Sozialhilfebeziehende unter Druck. Zugangsgesuche mit den Öffentlichkeitsgesetzen in 552 Gemeinden zeigen, welche Kantone das Problem besser im Griff haben – und welche schlechter.
Das Wichtigste in Kürze
- Die steigenden Wohnkosten machen Sozialhilfebeziehenden besonders zu schaffen. Überschreitet ihre Miete die Limite der Sozialbehörde, können sie dazu aufgefordert werden, eine günstigere Wohnung zu suchen.
- Wie viel Sozialhilfebeziehende für die Miete ausgeben dürfen, war bislang kaum bekannt. Im Rahmen der schweizweit grössten Serie journalistischer Zugangsgesuche haben wir alle 552 Gemeinden in den Kantonen Aargau, Zürich, Solothurn, Basel-Stadt und Basel-Landschaft nach ihren Mietzinslimiten gefragt.
- Unsere Recherche zeigt: Was arm sein bedeutet, hängt auch vom Wohnort ab. Die Mietzinslimite für eine vierköpfige Familie variiert zwischen 935 und 2250 Franken netto. Auch unter Berücksichtigung der ortsüblichen Marktmieten zeigt sich eine enorme Bandbreite.
- Trotz steigender Wohnkosten haben viele Gemeinden ihre Richtlinien seit Jahren nicht mehr angepasst. Das wirft Fragen nach den Berechnungsmethoden der Gemeinden und der Rechtsgleichheit der Sozialhilfebeziehenden auf.
- Der Kanton Solothurn will die Berechnung der Mietzinslimiten harmonisieren und fairer gestalten. Der Kanton Aargau hingegen weiss nicht einmal, wie hoch die Limiten seiner Gemeinden sind.
Eine vierköpfige Familie, die im aargauischen Spreitenbach Sozialhilfe bezieht, darf höchstens 1650 Franken für ihre Nettomiete ausgeben. In Killwangen, der teureren Gemeinde nebenan, sind es 1350. Deutlich weniger Geld trotz höherer Marktmieten– wie ist das möglich?
Wie hoch die Gemeinden ihre Mietzinslimiten für Sozialhilfebeziehende ansetzen und wie stark sich diese regional unterscheiden, war bislang weitgehend unbekannt. Im Rahmen der schweizweit grössten Serie journalistischer Zugangsgesuche haben Öffentlichkeitsgesetz.ch und das Recherche-Team Reflekt alle 552 Gemeinden in den Kantonen Aargau, Zürich, Solothurn, Basel-Stadt und Basel-Landschaft gestützt auf die kantonalen Öffentlichkeitsgesetze kontaktiert. Wir wollten wissen, wie viel Sozialhilfebeziehende maximal für die Miete ausgeben dürfen und wann diese Richtlinien letztmals angepasst wurden.
Unsere Recherche zeigt: Die Unterschiede zwischen den Gemeinden sind massiv und werfen Fragen nach den Berechnungsmethoden auf (Teil 2: Daten). Einige Kantone achten genauer darauf als andere, dass ihre Gemeinden die Mietzinslimite den steigenden Wohnkosten anpassen (Teil 3: Missstand). Sechs Partnermedien haben das Thema in den Kantonen Aargau, Basel-Landschaft, Solothurn und Zürich vertieft (Teil 6: Publikationen).
Teil 1: Relevanz
Durch die steigenden Miet- und Nebenkosten kommen Sozialhilfebeziehende zunehmend unter Druck. «Wohnen mit Sozialhilfe ist ein brisantes Thema», sagt Andreas Hediger, Geschäftsleiter der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht UFS. Die Anzahl Beratungsanfragen zum Thema Wohnen habe im vergangenen Jahr zugenommen. Für Sozialhilfebeziehende werde es immer schwieriger, günstigen Wohnraum zu finden. Zudem führten die steigenden Kosten auch zu prekären Situationen in bestehenden Wohnverhältnissen. Übersteigen ihre Mietkosten die Limiten der Gemeinde, können Sozialhilfebeziehende dazu aufgefordert werden, eine günstigere Wohnung zu suchen.
Christophe Roulin und Benedikt Hassler von der Fachhochschule Nordwestschweiz haben rund 50 Sozialdienste in der Deutschschweiz zum Thema Sozialhilfe befragt. Dabei sind sie auf Gemeinden gestossen, in denen bei bis zu 40 Prozent aller Sozialhilfedossiers die Mietzinslimiten überschritten werden. Wie mit diesen überhöhten Mieten umgegangen werde, sei sehr unterschiedlich, sagt Christophe Roulin. Einige Gemeinden zahlten die erhöhte Miete so lange, bis eine günstigere Wohnung gefunden wurde. Andere übernehmen sie nur bis zum nächsten Kündigungstermin. Damit sie ihre Wohnung nicht verlassen müssen oder weil sie nichts Günstigeres finden, würden Sozialhilfebeziehende die zusätzlichen Mietkosten und Nebenkosten-Nachzahlungen nicht selten aus ihrem restlichen Budget bezahlen. «Faktisch reduziert sich so der ohnehin tiefe Betrag, den sie für ihren Grundbedarf erhalten», sagt Benedikt Hassler. «Das ist problematisch. Schliesslich geht es um das Existenzminimum, das Menschen für ein würdiges Leben brauchen.»
Hätten in einer Gemeinde 20 oder mehr Prozent aller Sozialhilfebeziehenden überhöhte Mieten, könne man diese nicht einfach zum Umzug auffordern. «Dass alle eine neue, bezahlbare Wohnung finden, ist unrealistisch», sagt Christophe Roulin. Hohe Überschreitungsquoten sind für die beiden Forschenden ein Hinweis darauf, dass die behördlichen Limiten zu tief liegen.
Anders als beim Grundbedarf der Sozialhilfe oder den Ergänzungsleistungen fehlen bei den Mietzinslimiten klare Regelungen zur Berechnung oder Anpassung. In den Leitlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) ist lediglich festgehalten, dass die Richtlinien «fachlich begründet» sein müssen. Sie sollen sich auf Daten des lokalen und aktuellen Wohnungsangebots stützen und periodisch überprüft werden. Der Steuerung des Zu- oder Wegzugs wirtschaftlich schwacher Personen dürfen die Richtlinien nicht dienen.
Wann eine Anpassung nötig ist und wie die Limiten berechnet werden, bleibt den Gemeinden überlassen.
Dass Killwangen tiefere Mietzinslimiten hat als das günstigere Spreitenbach, ist in der Gemeinde bekannt. «Wir sind dabei, uns Überlegungen betreffend einer Anpassung zu machen», schreibt Gemeindeammann Markus Schmid. Da Killwangen den Sozialdienst nach Spreitenbach auslagere, befinde man sich ohnehin im Austausch mit der Nachbargemeinde.
«Was arm sein bedeutet, unterscheidet sich von Gemeinde zu Gemeinde», sagt UFS-Geschäftsleiter Andreas Hediger. Im Rahmen der Beratungstätigkeit stelle er fest, dass es bei der Berechnung der Mietzinslimiten an Transparenz und einheitlichen Regelungen fehlt. Viele Gemeinden hätten zudem keine Ahnung, was die Nachbarsgemeinden machen und wie diese zu ihren Limiten kommen, sagt Benedikt Hassler von der Fachhochschule Nordwestschweiz. «Die fachliche Diskussion und der Austausch kommen zu kurz, weil die Datengrundlage fehlt.»
Teil 2: Daten
543 der 552 angefragten Gemeinden haben uns bis zum Ende der Erhebung am 7. Juni 2024 ihre Mietzinslimiten bekannt gegeben. Einige verfügen über keine Richtlinien, weil sie sehr klein sind oder keine Sozialhilfebeziehenden haben. Nur zwei Gemeinden weigerten sich, ihre Daten preiszugeben (siehe Teil 5: Making of).
Die Limiten für eine vierköpfige Familie reichen von 935 bis 2250 Franken (exkl. Nebenkosten). Auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Marktmieten ergibt sich eine enorme Bandbreite.
Methodik & Limitationen
Mehrere Gemeinden haben darauf hingewiesen, dass sich die Mietzinslimiten aufgrund der unterschiedlichen lokalen Wohnungsmärkte nur bedingt vergleichen lassen. Um dennoch eine Vergleichbarkeit herzustellen, haben wir die Limiten mithilfe von Daten des Immobilien-Dienstleisters Wüest Partner ins Verhältnis zum Mietzinsniveau der einzelnen Gemeinden gesetzt.
Die behördliche Limite für einen Einpersonenhaushalt stellen wir ins Verhältnis zur durchschnittlichen Marktmiete für eine 1- oder 1.5-Zimmerwohnung, die Limite für eine vierköpfige Familie zur durchschnittlichen Marktmiete für eine 3 oder 3.5-Zimmer-Wohnung. So wird berücksichtigt, dass eine Gemeinde mit tieferen Marktmieten auch tiefere Mietzinslimiten hat.
Lokale Besonderheiten des Wohnungsmarkts wie etwa eine hohe Anzahl Sozialwohnungen, das Fehlen von günstigem Wohnraum, das Verhältnis von Angebot und Nachfrage oder unter der Hand vergebene Wohnungen werden nicht erfasst.
Von Sozialhilfebeziehenden wird erwartet, dass sie in günstigem Wohnraum leben – dieser kann je nach Gemeinde deutlich unter dem durchschnittlichen Mietpreis liegen. Gleichzeitig sind sich Expertinnen und Experten einig darin, dass es für Sozialhilfebeziehende besonders schwierig ist, eine Wohnung zu finden.
Rund ein Fünftel der Gemeinden weist ihre Mietzinslimiten als Nettomieten aus und übernimmt die Nebenkosten. Der Rest weist sie als Bruttomieten inklusive Nebenkosten aus. Um diese Zahlen miteinander vergleichen zu können, haben wir bei den Bruttomieten einen pauschalen Wert von 15 Prozent abgezogen. Das entspricht in etwa dem letzten verfügbaren Wert aus der Haushaltsbudgeterhebung des Bundesamts für Statistik von 2015 bis 2017 und den vom Schweizerischen Verband der Immobilienwirtschaft SVIT erhobenen Daten zu Akonto-Nebenkosten.
Die untenstehende Karte zeigt, wie unterschiedlich stark die von den Sozialbehörden festgelegten Limiten von den durchschnittlichen Marktmieten abweichen. Dabei wird deutlich, dass die aktuellen Berechnungen in einem Flickenteppich enden. Die Karte hält nicht fest, welche Gemeinden mit ihren Vorgaben richtig liegen und welche falsch. Diese Berechnung ist komplex und kann nur mittels genauer Kenntnis des lokalen Wohnungsmarkts erfolgen (siehe Infokasten Methodik & Limitationen).
Flickenteppich Mietzinslimiten: So unterschiedlich zahlen die Sozialämter
Karte umschalten:
1 Person Familie
In den schwarz markierten Gemeinden reicht die Mietzinslimite nicht für eine durchschnittliche 1- bis 1,5-Zimmer-Wohnung.
Die Differenzen zwischen den behördlichen Mietzinslimiten der durchschnittlichen Marktmiete unterscheiden sich stark – sowohl innerhalb als auch zwischen den Kantonen. Zwei Extrembeispiele: In Oberwil-Lieli (AG) liegt der Ansatz für eine von der Sozialhilfe abhängigen Person 452 Franken unter dem aktuellen Marktpreis für eine 1- bis 1.5-Zimmer-Wohnung, in Brislach (BL) 441 Franken darüber.
Die folgende Grafik zeigt die ganze Bandbreite dieser Differenzen über die fünf Kantone hinweg:
Wie kommen diese grossen Unterschiede zustande? SKOS-Geschäftsführer Markus Kaufmann betont die schwierige Lage, in der sich die Gemeinden befänden: Einerseits dürften ihre Limiten nicht zu tief sein, damit die Sozialhilfebeziehenden die Möglichkeit haben, eine Wohnung zu finden. Andererseits nicht zu hoch, weil der Anspruch bestehe, dass die Menschen in günstigem Wohnraum leben. Kombiniert mit der Gemeindeautonomie und den unterschiedlichen Wohnungsmärkten ergebe das sehr unterschiedliche Richtlinien.
Christophe Roulin und Benedikt Hassler von der Fachhochschule Nordwestschweiz stellten im Rahmen ihrer Forschung fest, dass sich die Berechnungen der Gemeinden stark unterscheiden. Manche begnügten sich damit, Wohnungsinserate anzuschauen oder die Mietzinslimiten mit den Nachbargemeinden zu vergleichen, andere lagerten die Analyse an externe Dienstleister aus. «Einige machen es sehr professionell und versuchen, den lokalen Wohnungsmarkt realistisch zu erfassen», sagt Hassler. «Andere legen ihre Limiten eher Handgelenk mal Pi fest.» Unabhängig davon, was die Sozialdienste als angemessene Richtlinie erachten, sind es in der Regel die Sozialbehörden, die über die Limiten entscheiden. Wann und ob eine Anpassung stattfindet, ist ein politischer Entscheid.
Wie gross die Bandbreite der Mietzinslimiten ist, zeigt die untenstehende Datenbank. Sie kann nach einzelnen Gemeinden durchsucht werden, aber auch nach Kantonen oder Bezirken.
Teil 3: Missstand
Die Stadt Zürich hat auf den 1. Juli 2024 eine markante Anpassung ihrer Mietzinsrichtlinien geplant: Von 1800 brutto wird sich die Limite für einen Vierpersonen-Haushalt auf 1950 netto erhöhen. Die Begründung: Aufgrund der steigenden Wohnkosten werde es vor allem für sozial benachteiligte Menschen immer schwieriger, günstigen Wohnraum zu finden.
Auch im Kanton Solothurn sei der Handlungsbedarf zur Anpassung unbestritten, schreibt Etienne Gasche, Präsident der Solothurner Sozialkonferenz, auf Anfrage. Sowohl der Referenzzinssatz als auch die Nebenkosten seien deutlich gestiegen.
Zahlreiche Gemeinden gaben an, dass sie ihre Richtlinien erst vor Kurzem angepasst haben oder aktuell eine Anpassung prüfen. Die Analyse der erhobenen Daten zeigt aber auch: Es gibt erstaunlich viele Gemeinden, die ihre Mietzinslimiten trotz gestiegener Wohnkosten seit Jahren nicht angepasst haben:
- Von den 472 Gemeinden, von denen wir das letzte Anpassungsdatum kennen, haben 225 oder 48 Prozent ihre Limiten letztmals vor 2022 angepasst.
- Bei 125 Gemeinden fand die letzte Anpassung vor 2020 statt.
- Bei 36 Gemeinden sogar vor 2015. Davon liegen 21 im Kanton Aargau und 15 im Kanton Zürich.
- 72 Gemeinden haben nicht bekanntgegeben, wann sie ihre Limiten letztmals angepasst haben.
In Solothurn sind die Richtlinien im Durchschnitt aktueller als im Aargau: 76 Prozent aller Gemeinden in Solothurn haben sie 2020 oder später angepasst, während es im Aargau nur etwas mehr als die Hälfte ist:
Unterm Strich kann gesagt werden: Im Aargau und in Zürich können Sozialhilfebeziehende durchschnittlich deutlich weniger für ihre Wohnung ausgeben als in den Kantonen Solothurn oder Basel-Landschaft.
Im Aargau liegt die Limite für einen Vierpersonenhaushalt im Schnitt 152 Franken unter der durchschnittlichen Marktmiete für eine 3- bis 3.5-Zimmer-Wohnung. In Zürich sind es sogar 226 Franken.
Zum Vergleich: Im Kanton Solothurn liegt die Limite für einen Vierpersonenhaushalt im Schnitt 18 Franken über der durchschnittlichen Marktmiete für eine 3- bis 3.5-Zimmer-Wohnung. Im Kanton Basel-Landschaft sind es 40 Franken.
Hat eine Gemeinde die Richtlinien trotz steigender Wohnkosten lange nicht mehr angepasst und weist sie gleichzeitig tiefe Limiten auf, kann das ein Hinweis darauf sein, dass Handlungsbedarf besteht:
Mit dem Hinweis konfrontiert, dass zahlreiche Aargauer Gemeinden ihre Richtlinien lange nicht mehr angepasst haben und zudem tiefe Mietzinslimite aufweisen, schreibt der kantonale Sozialdienst: «Aus unserer Sicht kann nicht pauschal die Schlussfolgerung gezogen werden, dass Mietzinsrichtlinien, welche die Gemeinde nicht vor kurzem angepasst hat, nicht überprüft wurden oder per se zu tief liegen.» Die Gemeinden müssten die Mietzinslimiten periodisch und unter Berücksichtigung des lokalen und aktuellen Wohnungsangebots überprüfen. Auf diese Pflicht würden sie im Rahmen von Kursen hingewiesen.
Ob sie das wirklich tun und inwiefern die Limiten den aktuellen Verhältnissen entsprechen, weiss der Kanton Aargau aber nicht. Es bestehe keine Meldepflicht der Gemeinden, schreibt der kantonale Sozialdienst: «Wir verfügen über keine Übersicht über die Mietzinsrichtlinien der Aargauer Gemeinden und kennen auch die jeweiligen Berechnungsmethoden der Gemeinden nicht.» Die Angemessenheit der Limiten würde nur im Einzelfall und im Rahmen von Beschwerdeverfahren überprüft. Auch dem Verband Aargauer Gemeindesozialdienste sind weder die Richtlinien der Gemeinden noch deren Berechnungsmethoden bekannt.
Anders sieht es diesbezüglich in Basel-Landschaft aus. Hier verschafft sich der Kanton regelmässig eine Übersicht über die geltenden Mietzinsrichtlinien. Man fordere die Gemeinden jährlich dazu auf, ihre aktuellen Mietzinslimiten zu melden, schreibt das kantonale Sozialamt: «Wenn von einer Gemeinde keine Rückmeldung kommt, wird nachgefragt. So befassen sich alle Gemeinde einmal jährlich mit den Mietzinsgrenzwerten». In der kantonalen Sozialhilfeverordnung sei zudem festgehalten, dass die Mietzinsrichtlinien überprüft werden müssen.
Im Rahmen von Audits kontrolliere das Sozialamt punktuell die Festlegung der Mietzinsrichtlinien. Werde dabei festgestellt, dass die Methodik mangelhaft sei oder länger keine Anpassung stattgefunden habe, empfehle man eine Überprüfung. Derzeit werde zudem die Einführung eines kantonalen Leitfadens zur Festlegung der Grenzwerte geprüft.
Auch im Aargau gibt es Bemühungen zur Harmonisierung. Der Verband Aargauer Gemeindesozialdienste will beim Grossrat vorstellig werden, um allenfalls das System der einheitlichen Mietzinsregionen zu übernehmen, das bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen angewendet wird.
Solothurn ist bereits einen Schritt weiter. Hier haben die kantonale Sozialkonferenz und das Amt für Gesellschaft und Soziales gemeinsam Empfehlungen erarbeitet, wie die Gemeinden ihre Mietzinslimiten künftig berechnen sollen. Die wichtigsten Punkte: Nettomieten ohne Beschränkung der Nebenkosten, Überprüfung mindestens alle vier Jahre und Nutzung professionell erhobener Daten zur Analyse des Wohnungsmarktes.
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REFLEKT ist gemeinnützig. Alle Beiträge sind steuerlich absetzbar.Teil 4: Lösungsansätze
Viele Gemeinden fühlten sich beim Thema Mietzinslimiten im Stich gelassen, sagen Christophe Roulin und Benedikt Hassler von der Fachhochschule Nordwestschweiz. In ihren Gesprächen mit den rund 50 Sozialdiensten hätten sie festgestellt, dass die Berechnung der Limiten zahlreiche Gemeinden überfordere. Einige wären froh, würde der Kanton den Prozess besser koordinieren und hätten sie mehr Informationen darüber, wie umliegende Gemeinden mit dem Thema umgehen.
Für Thomas Michel kommt diese Erkenntnis nicht überraschend. Der Abteilungsleiter Soziales der Stadt Biel ist Co-Präsident der Berner Konferenz für Sozialhilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz BKSE. Mit dem Thema Wohnen in der Sozialhilfe wird er immer wieder konfrontiert. «Wenn man gerecht sein will, bleibt die Berechnung kompliziert», sagt Michel. Eine Harmonisierung der Mietzinsrichtlinien, wie sie zum Beispiel in einigen Solothurner Sozialregionen stattfindet, hält er für bedingt zielführend. Einigten sich mehrere Gemeinden auf dieselben Limiten, würden die Behörden zwar Ressourcen sparen. Man ignoriere damit aber die unterschiedlichen lokalen Wohnungsmärkte, was zu ungerechten Lösungen führen könne.
Um aufzuzeigen, wie die Mietzinslimiten fair berechnet werden können, hat die Region Seeland rund um Biel 2016 eine Studie in Auftrag gegeben. Die daraus entstandenen Empfehlungen würden heute von den Gemeinden angewendet, so Michel. Dadurch habe man nicht unbedingt die Unterschiede bei den Mietzinslimiten reduziert, aber die Intransparenz und Spannungen zwischen den Gemeinden.
Obschon es keine Belege dafür gebe, dass Mietzinslimiten zu Zu- oder Wegzug führen, sei dies eine Angst von Gemeindeverantwortlichen. «Niemand will zu hoch sein. Niemand will anpassen, bevor die anderen etwas machen», so Michel. Die Leidtragenden dieses Stillstands seien die Sozialhilfebeziehenden. Deshalb brauche es Austausch und eine gute Datengrundlage. «In unserer Region haben wir damit gute Erfahrungen gemacht», sagt er. Die Einführung einer schweizweiten Regelung rund um die Berechnungsverfahren und die auslösenden Indikatoren einer Anpassung würde Michel sehr begrüssen.
In diese Richtung geht das Projekt Toolbox Mietzinsrichtlinien, das die SKOS finanziert und das Ende Jahr abgeschlossen wird. «Aus der Forschung soll ein fachlich abgestützter Mechanismus zur Festlegung der Richtlinien entstehen», sagt SKOS-Geschäftsführer Markus Kaufmann. Ob damit auch Gemeinden ihre Mietzinslimiten anpassen würden, die in den vergangenen zehn Jahren untätig blieben, ist unklar. Ein einheitliches Verfahren zur Berechnung und Anpassung der Mietzinslimiten könnten laut Kaufmann nur die Kantone für verbindlich erklären.
Teil 5: Making of
Die Recherche «Wohnen am Limit» entstand im Rahmen des Regionen-Projekts von Öffentlichkeitsgesetz.ch. Das Projekt zielt auf eine gute Umsetzung der Öffentlichkeitsgesetze in den Kantonen ab.
In Zusammenarbeit mit dem investigativen Recherche-Team Reflekt wurden alle Gemeinden in den Kantonen Zürich, Aargau, Solothurn, Basel-Landschaft und Basel-Stadt mit Hinweis auf die kantonalen Öffentlichkeitsgesetze aufgefordert, uns die geltenden Mietzins-Richtlinien der Sozialhilfe zuzustellen. Zudem fragten wir nach dem Datum der letzten Richtlinien-Anpassung.
Zwischen Dezember 2023 und Mai 2024 stellten wir Zugangsgesuche für insgesamt 552 Gemeinden– die grösste von Medien initiierte Serie solcher Anfragen in der Schweiz. Die Gesuche um Zugang zu einem amtlichen Dokument wurden sowohl von grossen Stadtverwaltungen wie Aarau oder Solothurn als auch von Kleinstgemeinden mit 230 Einwohnenden bearbeitet. Dabei kam es zu einem Austausch mit Gemeindeschreibern, Sozialdiensten und verantwortlichen Gemeinderätinnen. In einigen der angefragten Gemeinden sind die Mietzinsrichtlinien online zugänglich.
Insgesamt setzten die Gemeinden das geltende Öffentlichkeitsprinzip erfreulich gut um und machten die Mietzinsrichtlinien in der geltenden Frist zugänglich.
Einzelne Gemeinden waren sich nicht bewusst, dass sie gestützt auf das Gesetz grundsätzlich zur Herausgabe des amtlichen Dokuments verpflichtet sind. So weigerte sich die Zürcher Gemeinde Hüntwangen kategorisch, an der angeblichen «Umfrage» teilzunehmen, lieferte die Daten jedoch nach Ablauf der Frist als letzte Gemeinde. Im direkten Gespräch konnten ein Dutzend Gemeinden von der anfänglichen Verweigerung abgebracht werden.
Während einige Gemeinden die Wichtigkeit der Thematik für ihre Gemeinden betonten und die interkantonale Erhebung befürworteten, waren andere skeptisch. So zweifelten sie die Vergleichbarkeit der Gemeinden an oder erwähnten, dass eine Publikation der Zahlen dazu führen könnte, dass Besitzer von potenziellen Sozialwohnungen die Mietpreise an die Maximalgrenze anpassen würden. Wir erklärten, dass wir die Zahlen mithilfe der vom Immobilienspezialisten Wüest Partner gelieferten Informationen auf die ortsüblichen Mietzinse abstimmen würden (siehe Teil 2: Daten). Einzig die Zürcher Gemeinde Oberweningen (ZH) weigerte sich beharrlich und stellte uns eine anfechtbare Verfügung in Aussicht. Die Gemeinde Känerkinden (BL) hat uns auch nach Ablauf der Frist keine Daten zugestellt.
Eine kleine Anzahl von Gemeinden hat uns informiert, dass sie wegen wenig oder fehlender Sozialhilfefälle keine Mietzinsrichtlinien festgelegt hat.
Wir tauschten uns laufend mit den sechs am Rechercheprojekt beteiligten Redaktionen aus. Nachdem die Daten erhoben und aufbereitet waren, arbeiteten die Datenteams und Redaktionen eigenständig an lokalen und regionalen Aspekten, konfrontierten Gemeinden und konsultierten Fachpersonen.
Teil 6: Publikationen
Tages-Anzeiger: «So viel bezahlen Zürcher Gemeinden»
Gemeinden mit tiefen Mietzinslimiten sind im Kanton Zürich oft kleinere, ländliche Orte mit vielen Einfamilienhäusern und wenig Wohnblöcken. Die Stadt Zürich erhöht ihre Limiten derweil stark.
Solothurner Zeitung: «Kaum noch bezahlbare Wohnungen»
Wegen tiefer Mietzinslimiten muss eine Sozialhilfebezügerin in Grenchen einen Teil ihrer Miete selbst bezahlen. Die hohen Wohnkosten werden zunehmend zum Problem. Kanton und Gemeinden sehen Handlungsbedarf.
Der Landbote: «Viele Bezüger wohnen teurer als erlaubt»
Die steigenden Mieten sind für Sozialhilfebezüger ein existenzielles Problem. In der Region Winterthur finden sie selbst in den grosszügigsten Gemeinden kaum günstigen Wohnraum.
Aargauer Zeitung: «So viel zahlen Aargauer Gemeinden»
Die Mietzinsrichtlinien im Aargau unterscheiden sich enorm. Beim Einpersonen-Haushalt liegen die Limiten zwischen 550 und 1020 Franken. Einzelne Steuerparadiese sind besonders knausrig.
Limmattaler Zeitung: «Es ist prekärer geworden»
Die Marktmieten sind viel stärker gestiegen als die Beiträge, die Sozialhilfebeziehende für ihre Wohnung erhalten. Nach teils jahrelangem Stillstand bewegen sich jetzt aber die Gemeinden.
bz Basel: «Gefangen in einer kleinen Wohnung»
Ein Sozialhilfebezüger erzählt von den Schwierigkeiten der Wohnungssuche. Menschen in der Sozialhilfe suchen im Baselbiet oft vergebens nach einem neuen Daheim.