Der rasante Aufstieg des Zürcher Immo-Giganten

Seit 2008 hat die Swiss Life Gruppe mehr als 200 Grundstücke in der Stadt Zürich gekauft. Unsere Recherche zeigt, wie der Konzern zum grössten kommerziellen Wohnungsbesitzer der Stadt wurde. Und welche Konsequenzen das für Mietende haben kann.

Dieser Beitrag ist in Kooperation mit dem Lokalmedium Tsüri.ch entstanden.

Das Wichtigste in Kürze

  1. Unternehmen kaufen immer mehr Wohnungen in der Stadt Zürich. 5000 gehören alleine der Swiss Life Gruppe.
  2. Ihr Aufstieg zum Immo-Giganten begann nach der Finanzkrise 2007/08. Seither kaufte die Swiss Life über 200 Grundstücke in der Stadt und hängte die Konkurrenz ab.
  3. Beispielhaft für den Kaufrausch stehen die Notariatskreise Enge und Oerlikon. Hier legte das Unternehmen in den letzten Jahren am stärksten zu.
  4. Der Mieterinnen- und Mieterverband Zürich bezeichnet das Wachstum als «dramatisch». Durch ihre Marktmacht trage die Swiss Life zu höheren Mietpreisen bei und könne neue Standards setzen. Um die Rendite zu erhöhen, würde der Konzern immer wieder ganze Mehrfamilienhäuser abreissen und neu bauen.
  5. Bis wir von den 11 Grundbuchämtern der Stadt alle Daten zum Immobilienbesitz der Swiss Life erhalten hatten, dauerte es 8 Monate. In einem Fall mussten wir sogar vor Gericht gehen, um Transparenz zu schaffen.

44 Jahre arbeitete Stella Bogoni als Kindergärtnerin in der Stadt Zürich. Sie wuchs im Seefeld-Quartier auf und lebte dort ihr ganzes Leben – bis sie 2016 wegen einer Renovation ausziehen musste. Ihre Rückkehr war nicht vorgesehen: Laut einer  ehemaligen Nachbarin kostete die renovierte Wohnung neu mehr als das Doppelte.

Für die damalige Aufwertung war der Versicherungskonzern Swiss Life verantwortlich – das Unternehmen also, das mit Abstand am meisten Wohnungen in der Stadt Zürich besitzt. Stella Bogoni fand ein neues Zuhause an der Allenmoosstrasse in Oerlikon, in einem für sie unbekannten Quartier. Nur die Vermieterin war eine Altbekannte: wieder gehörte das Gebäude der Swiss Life, wieder wurde es von der unternehmenseigenen Immobilienverwaltung Livit verwaltet.

Weil die pensionierte Kindergärtnerin im Treppenhaus Löcher und andere Mängel entdeckte, fragte sie bei der Verwaltung nach, ob sie ganz sicher nicht wieder wegen eines Umbaus ausziehen müsse. «Nichts in der Pipeline», lautete die Antwort. Also sagte sich Stella Bogoni: «Das ist das letzte Mal, dass ich umziehe.» Doch keine vier Jahre später, im September 2020, erhielt sie einen eingeschriebenen Brief: die Kündigung. Alle acht Mehrfamilienhäuser ihrer Siedlung wurden abgerissen. Alle Mieter/innen der Swiss Life mussten raus. Stella Bogoni, die ihr ganzes Leben in Zürich verbracht hatte, musste die Stadt nun ganz verlassen. Heute lebt sie im Kanton Aargau.

Ähnliche Schicksale dürfte es Tausende geben. Die Swiss Life Gruppe besitzt landesweit mehr als 1360 Liegenschaften – nach eigenen Angaben ist das Unternehmen damit «Eigentümerin des grössten privat gehaltenen Immobilienportfolios der Schweiz». Doch zu mehr Transparenz fühlt sich der Konzern deswegen nicht verpflichtet: Anders als etwa die grössten Konkurrenten UBS und CS gibt die Swiss Life Gruppe nicht bekannt, welche Liegenschaften oder wie viele Grundstücke sie in Zürich besitzt. Auf Anfrage heisst es lediglich, dass es aktuell rund 5000 Wohnungen seien. Und: «Wir kommentieren unser Portfolio nicht bis auf die Stufe einzelner Liegenschaften und Standorte.»

Will man mehr über den Besitz der wichtigsten Immobilienfirma der Stadt erfahren, bleibt nur der mühsame Gang über die Grundbuchämter. Gemeinsam mit Tsüri.ch haben wir diesen Aufwand auf uns genommen, um erstmals detaillierten Einblick in das Portfolio des Zürcher Immo-Giganten zu bekommen (siehe Kasten).

Zur Datenerhebung

Allein in der Stadt Zürich gibt es elf Grundbuchämter. Alle funktionieren autonom und blocken die ersten Anfragen nach dem Besitz der Swiss Life und deren Tochterfirmen ab. Der Grund: Sogenannte serielle und personenbezogene Anfragen sind im Normalfall nicht erlaubt. Also legten wir gemeinsam mit Tsüri.ch unser journalistisches Interesse dar und bestärkte dieses mit einem Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2000. Zehn Ämter reagierten positiv, nur das Grundbuchamt Enge weigerte sich. Erst eine Beschwerde beim Bezirksgericht konnte die Herausgabe der Informationen erzwingen. In seinem Entscheid vom Juni 2021 bestätigt das Gericht, dass personenbezogene und serielle Anfragen möglich sind.

Insgesamt kostete die Bearbeitung unserer Anfragen über 1000 Franken (exkl. Anwaltskosten). Die Daten wurden von einigen Grundbuchämtern digital geliefert, andere schickten ausgedruckte Listen. Letztere mussten wir von Hand digitalisieren, weshalb kleinere Fehler nicht auszuschliessen sind. Den daraus entstandenen Datensatz haben wir bereinigt, damit jede Parzelle nur einmal vorkommt.  Neben der Auswertung nach Anzahl Parzellen wäre auch eine Analyse nach Adressen oder nach Fläche der Parzellen denkbar.

Die Daten wurden uns von den Grundbuchämtern zu folgenden Zeitpunkten geliefert:

Wiedikon: 07.12.2020
Altstadt
: 09.12.2020
Unterstrass: 11.12.2020
Riesbach: 16.12.2020
Hottingen: 7.1.2021
Höngg: 11.1.2021
Oerlikon: 14.1.2021

Fluntern: 26.1.2021
Aussersihl
: 27.01.2021
Enge: 16.7.2021

Hier lassen sich die Originaldaten einsehen: Handänderungen Swiss Life Stadt Zürich_7.9.2021

Rund acht Monate dauerte es von der ersten Anfrage bei den Grundbuchämtern bis zum vollständigen Erhalt der Daten. Doch der Aufwand hat sich gelohnt: Erstmals können wir aufzeigen, wie viele Grundstücke die Swiss Life in der grössten Stadt der Schweiz besitzt, in welchen Teilen der Stadt diese liegen und wann das Unternehmen begonnen hat, massiv in Zürcher Boden zu investieren.

Eine erste Erkenntnis: Der Versicherungskonzern besitzt in der Stadt Zürich Grundstücke über mindestens vier verschiedene Unternehmen.
1) Swiss Life AG: 327 Parzellen
2) Swiss Life Asset Management AG: 27 Parzellen
3) Oscar Weber AG: 14 Parzellen
4) Technopark Immobilien AG: 2 Parzellen

Zweite Erkenntnis: In der ganzen Stadt gehören der Swiss Life Gruppe 370 Parzellen ganz oder teilweise, auf denen total 596 verschiedene Adressen registriert sind. Am meisten Grundstücke besitzt das Unternehmen in den Notariatskreisen Oerlikon und Enge. Am wenigsten sind es in Altstetten:

Grundstücke der Swiss Life Gruppe nach Notariatskreis

Von der Rentenanstalt zum Immo-Giganten

1857 gegründet, kauft die damalige Schweizerische Rentenanstalt 1867 ihr erstes Grundstück. Bis ins Jahr 1954 kommen mindestens weitere 133 Käufe hinzu, danach flaut der Appetit auf Immobilien etwas ab. 1997, kurz vor ihrem 140. Geburtstag, wird aus der Genossenschaft eine AG. 2004 erhält sie ihren heutigen Namen Swiss Life. Doch erst, als es wenige Jahre später zur globalen Finanzkrise kommt, beginnt der rasante Aufstieg zum Zürcher Immo-Giganten.

Dritte Erkenntnis: Insbesondere seit der Finanzkrise 2007/08 hat das Unternehmen massiv in Zürcher Immobilien investiert.

Zwischen 2008 und 2020 hat die Swiss Life Gruppe im Schnitt mindestens 15 Grundstücke pro Jahr gekauft. 2020 waren es in einem einzigen Jahr 31. Zum Vergleich: In der Zeit zwischen 1926 und 2007 erwarb das Unternehmen durchschnittlich zwei pro Jahr.

Wertet man die Daten nach Anzahl Adressen statt Parzellen aus, sind die Unterschiede noch grösser: Von den 596 Adressen, welche die Swiss Life laut Grundbuch in Zürich besitzt, kamen 56 Prozent seit 2008 neu dazu. 58 Stück allein im Jahr 2020:

In diesen Jahren erwarb die Swiss Life Gruppe die Adressen ihres aktuellen Zürich-Portfolios.

Dabei muss beachtet werden, dass im Grundbuch nur die Grundstücke vermerkt sind, welche die Swiss Life aktuell besitzt – Parzellen, die wieder verkauft wurden, tauchen in dieser Auswertung nicht auf. Wir wissen also, wie viele Grundstücke das Unternehmen in den jeweiligen Jahren mindestens gekauft hat.

Kaufrausch in Oerlikon & Enge

Die Auswertung nach Notariatskreisen und Erwerbsjahr ergibt weitere interessante Details. So zeigt sich etwa, dass die Notariatskreise Altstetten und Höngg bei der grossen Kaufoffensive kaum und Unterstrass, Wiedikon und Hottingen nur sehr beschränkt eine Rolle spielten.

Deutlich mehr Grundstücke erwarb die Swiss Life in Höngg, Riesbach, Aussersihl und Altstadt. Hier kamen ab 2008 so viele Parzellen hinzu, dass die Neuerwerbungen nun einen Grossteil des Portfolios in den jeweiligen Grundbuchkreisen ausmachen.

Noch einrdücklicher zeigt sich der Kaufrausch in zwei anderen Kreisen: In Oerlikon und Enge kaufte die Swiss Life innert innert 13 Jahren 36, respektive 38 Parzellen. Sie stehen damit stellvertretend für den Aufstieg des Immo-Giganten.

Durch die hohen Investitionen ab 2008 wird die Swiss Life zur grössten kommerziellen Wohnungsbesitzerin Zürichs. Wie eine frühere Recherche von REFLEKT zeigt, besitzt sie 2009  noch weniger Wohnungen als die lokale Dominatorin UBS – und hängt die Konkurrenz danach regelrecht ab. In nur elf Jahren verdoppelt der Konzern seine Anzahl Wohnungen auf 5000 Stück. Dieser Kaufrausch ist umso erstaunlicher, als dass die Bodenpreise in der Stadt Zürich seit Jahren stark steigen. Allein zwischen 2008 und 2018 hat sich der Medianpreis pro Quadratmeter mehr als verdoppelt.

Gemäss Frédéric Papp, dem Immobilienexperten von Comparis, ist die rasante Entwicklung der vergangenen Jahren keine Überraschung. Die Zinsen würden bereits seit den 1990er-Jahren sinken, nach der Finanzkrise 2008 habe sich dies noch verstärkt: «Die Notenbanken weltweit haben die Zinsen teils in den negativen Bereich gedrückt, mit dem Ziel, Wirtschaftsrezessionen abzuwenden und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.» Das habe dazu geführt, dass es für Investor/innen immer schwieriger wurde, Gewinne auf Anleihen zu erwirtschaften. Zudem seien Immobilien attraktiv, da die Kursschwankungen gering und die Renditen stabil seien. Ganz besonders gilt das für boomende Städte wie Zürich, in denen Wohnraum knapp ist und Immobilien stetig an Wert gewinnen. Frédéric Papp geht davon aus, dass die Swiss Life ihr Immobilien-Portfolio auch in Zukunft in ähnlichem Ausmass ausbauen wird.

Diese Annahme wird von Seiten des Unternehmens bestätigt. «Diese Strategie möchten wir auch in den kommenden Jahren fortsetzen», gibt die Pressestelle Auskunft. Der Fokus liege dabei auf «zentralen Lagen in grösseren Schweizer Städten.»

Florian Spring (REFLEKT)

Durch die Kaufoffensive ab 2008 wurde die Swiss Life zur grössten kommerziellen Wohnungsbesitzerin der Stadt Zürich. Das haben Recherchen von REFLEKT ergeben. Mit 5000 Stück liegt der Versicherungskonzern deutlich vor den Grossbanken UBS (3700) und Credit Suisse (2400) und besitzt ähnlich viel wie die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (5100). Alle Genossenschaften zusammen kommen auf 41’256 Einheiten, die öffentliche Hand auf 15’578.

«Dramatisch ist nicht die nackte Zahl, sondern das starke Wachstum seit 2006», sagt Walter Angst vom Mieterinnen- und Mieterverband Zürich über den Immobilienbesitz der Swiss Life. Durch seine Macht sei der Konzern ein Treiber auf dem Wohnungsmarkt und habe gemeinsam mit der firmeninternen Verwaltung Livit neue Standards definiert. «100 Prozent Fokus auf Kapitalertrag, 0 Prozent auf die soziale Dimension des Wohnens», laute diese, so Angst. Immer wieder kaufe die Swiss Life Mehrfamilienhäuser, um diese abzureissen und mehr grössere und teurere Wohnungen für ein völlig anderes Klientel zu erstellen. Mieteinnahmen und Liegenschaftswerte könnten so bis zu vervierfacht werden.

Die grösste kommerzielle Vermieterin der Stadt Zürich ist sich ihrer Verantwortung durchaus bewusst, wie es auf Anfrage heisst. Die Swiss Life setze auf «eine langfristige und nachhaltige Nutzung von Immobilien». Da die Versicherung Rentenverpflichtungen habe, «die weit in das zweiundzwanzigste Jahrhundert hineinreichen», sei Swiss Life auf Anlagen angewiesen, die langfristig nachhaltige Erträge generieren. «Deshalb sehen wir uns auch in der Verantwortung, regelmässig in den Erhalt und die Erneuerung unseres Portfolios zu investieren.» Sprich: Ältere Liegenschaften sanieren und dann teurer wieder vermieten.

Dennoch wäre es zu einfach, den grossen Immo-Firmen die alleinige Verantwortung für die steigenden Mietpreise zuzuschieben. Laut Walter Angst vom Mieterinnen- und Mieterverband seien Politik und Stadtplanung mitverantwortlich, «weil der politische Wille nicht sehr ausgeprägt ist, die grossen Player in die Pflicht zu nehmen.» Zudem würden auch private Vermieter/innen auf ihre Art Wertsteigerungen realisieren. Bei der Swiss Life jedoch passiere das immer wieder durch Leerkündigungen, bei denen alle Mietenden ihre Wohnung verlassen müssen. So wie im Fall von Stella Bogoni. «Wenn saniert und neu gebaut wird, trifft Knall-Auf-Fall die Kündigung ein und die Siedlung wird ein Jahr später abgerissen», sagt Walter Angst. In diesem Fall gebe es nur eines, was die Mieterinnen und Mieter tun könnten: sich frühzeitig organisieren.

Christian Zeier

Recherche & Text

Esther Banz

Recherche & Text

Simon Jacoby (Tsüri.ch)

Recherche & Text

Florian Spring

Fotografie & Animation

Valentin Felber

Infografiken

Stirling Tschan

Webseite & Typografie

Elio Donauer (Tsüri.ch)

Redaktionelle Mitarbeit

Emilio Masullo (Tsüri.ch)

Redaktionelle Mitarbeit