«Zürich ist nicht Wien, aber weit von London entfernt»

André Odermatt, Vorsteher des Hochbaudepartements, ist mitverantwortlich für die Zürcher Wohnungspolitik. Im Interview spricht er über steigende Mieten, den Handlungsspielraum der Stadt und Zürich im internationalen Vergleich.

Herr Odermatt, der umstrittene Mietendeckel in Berlin zeigt, wozu starke Mietpreissteigerungen führen können. Ist eine solche Massnahme auch in Zürich denkbar?

Die Problematik der hohen Mieten wird nicht verschwinden in den nächsten Jahren. Wir müssen also auch schauen, wie sich die rechtlichen Bedingungen verändern lassen. Ein Beispiel, das diskutiert wird, ist etwa das Vorkaufsrecht für die öffentliche Hand. Es geht darum zu überlegen, wie und auf welcher Ebene sich so etwas einbauen liesse.

Was kann die Stadt bereits heute tun?

Wir haben ganz klar den Willen, eine aktive Wohnpolitik zu betreiben. Wir haben einen deutlichen Auftrag in der Gemeindeordnung, der besagt, dass wir das gemeinnützige Wohnungsangebot bis 2050 auf einen Drittel steigern müssen. Dazu haben wir im Programm Wohnen Massnahmen definiert und arbeiten mit relevanten Akteuren auf dem Wohnungsmarkt zusammen. Was auch wichtig ist: Anders als gewisse deutsche Städte in den 90er-Jahren verkaufen wir weder Land noch Liegenschaften. Wir behalten das städtische Eigentum und setzen es für den gemeinnützigen Wohnungsbau ein – indem wir entweder selber bauen, oder das Land im Baurecht an Genossenschaften und Stiftungen abgeben. Wir sind zudem kontinuierlich daran, mehr Bauland oder Liegenschaften zu erwerben. Aufgrund  der starken Konkurrenz ist das jedoch nicht einfach.

Weitere Artikel zum Thema:
– Welchen Firmen gehört Zürich?
– Mach mit beim #ZürichAufdecken
– So (in)transparent sind die Immobilien-Firmen
– Europas neue Grossgrundbesitzer

Inwiefern hat sich diese Situation für die Stadt in den letzten Jahren erschwert?

Es stellt sich schon die Frage: Unter welchen Bedingungen können wir als Stadt überhaupt noch Bauland oder Liegenschaften kaufen? Das viele Geld im Markt macht es uns jedenfalls deutlich schwieriger. Das hängt einerseits mit dem Zinsumfeld zusammen, dem unglaublich hohen Anreiz, Geld in Anlagen mit langfristigen Perspektiven zu investieren. Und andererseits mit den hohen Beiträgen, welche die Pensionskassen anlegen müssen, um unsere Alterssicherung zu gewährleisten. Dieser Druck wird sich in den nächsten Jahren wohl kaum verringern.

Sind die hohen Finanzflüsse in den Wohnungsmarkt vor allem problematisch oder gibt es auch Chancen?

Die Kaufpreise sind sehr stark gestiegen, was eine Erhöhung der Mietpreise und bei gewinnorientierten Bauträgern oftmals leider auch forcierten Neubau mit Leerkündigungen zur Folge hat. Das ist die soziale Problematik. Chancen hingegen ergeben sich dadurch, dass kontinuierlich in den Bestand investiert wird und Zürich daher ein sehr attraktives Wohnungsangebot hat. Und es entstehen Ersatzneubauten mit oftmals deutlich erhöhter Wohnungszahl – davon profitiert auch der gemeinnützige Wohnungsbau.

Wie geht die Stadt mit dem zunehmenden Phänomen der Ersatzneubauten und Totalsanierungen um, die viele Menschen zwingen, ihre Wohnungen zu verlassen?

Das ist für die Stadt eine wichtige Fragestellung, ganz klar. Im rechtlichen Kontext müssen wir schauen, wo Handlungsmöglichkeiten bestehen. Ich bin überzeugt, dass eine Vorwärtsstrategie, also eine aktive Wohnpolitik, am erfolgversprechendsten ist. Wir müssen Liegenschaften dauerhaft dem Markt entziehen, um so die Mietpreissteigerung zu mindern. Bei grösseren Ersatzbauvorhaben, die über unseren Tisch gehen, können wir im Dialog mit den Unternehmen Fragen der Etappierung oder der Möglichkeit von Ersatzwohnungen einbringen. Was andere Möglichkeiten angeht, sind wir schnell bei der kantonalen oder nationalen Gesetzgebung. Zürich ist nun mal kein Stadtkanton wie Basel-Stadt oder Genf, wo dahingehend mehr Handlungsmöglichkeiten bestehen.

Faktisch bleibt der Stadt gegenüber Unternehmen vor allem der Dialog – verpflichtende Massnahmen sind nicht möglich?

Auf kommunaler Ebene wären das leere Versprechen. Wir setzen uns aber auf den übergeordneten Ebenen aktiv für unsere Anliegen ein. Und wir deponieren die Anliegen als Fragestellung bei den Unternehmen und appellieren an ihre soziale Verantwortung.

Werde Teil der Recherche! Wir bei REFLEKT investieren viel Zeit und Geld, um Missstände aufzudecken und Transparenz zu schaffen. Nur mit deiner Unterstützung können wir diese Arbeit weiterführen.

 
REFLEKT ist gemeinnützig. Alle Beiträge sind steuerlich absetzbar.

Kann und will die Stadt in private Bauprojekte eingreifen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen?

Sobald wir planerisch im Dialog sind, haben wir Instrumente zur Hand. Bei Sondernutzungsplanungen etwa oder Um- oder Aufzonierungen. Am Beispiel Zollhaus zeigt sich, was möglich ist: Hier konnten wir im Rahmen der Mehrausnutzung gemeinnützigen Wohnraum schaffen. Oder in Neu-Oerlikon, wo wir im Zusammenhang mit den Sonderbauvorschriften Land von der ABB erwerben können. Dieses Land nutzen wir dann für den gemeinnützigen Wohnungsbau. Wenn wir hingegen nicht planerisch involviert sind, gilt die Regelbauweise, da ist der Handlungsspielraum kleiner.

Ist die Stadt auf einem guten Weg, das Drittelsziel bis 2050 zu erreichen?

In absoluten Zahlen kommen wir durchaus voran. Die Genossenschaften erleben nach einer Phase der Trägheit und der Stagnation eine Renaissance. Es kommt zu mehr Erneuerungen und sozialverträglicher Verdichtung. Aber die Wohnbautätigkeit in Zürich ist derart hoch, dass wir damit zwar den Prozentsatz halten, aber nicht erhöhen konnten. Im Hinblick auf zukünftigen gemeinnützigen Wohnungsbau und Errungenschaften bei den Privaten, sehe ich uns auf gutem Weg. Aber klar: Das Ziel haben wir noch längst nicht erreicht.

Tauschen Sie sich in Fragen der Mietzinserhöhungen mit Städten im In- oder Ausland aus?

Ja, aber man merkt dabei schnell, dass der rechtliche Kontext sehr unterschiedlich ist. Was man sagen kann: Erfolgreich sind Städte, welche die Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus vorantreiben. Kopenhagen zu einem gewissen Grad, München und natürlich Wien. Auf der anderen Seite stehen Städte wie London, die komplett den Märkten ausgeliefert sind.

Es gibt ExpertInnen, die sagen, dass eine attraktive Stadt wie Zürich schlicht zu viele Arbeitsplätze im Verhältnis zum Wohnraum hat und die Mietpreise aufgrund der starken Nachfrage zwingend steigen müssen. Was sagen Sie dazu?

Das ist eine sehr statistische Herangehensweise an die Problematik. Es gibt Gemeinden im Kanton, die mehr Arbeitsplätze pro Kopf haben als wir – Kloten zum Beispiel. Zudem ist es nicht so, dass die Arbeitsplätze in Zürich die Wohnnutzung verdrängen. Wir haben keine City-Bildung wie London. Bei uns wird in der Innenstadt noch gewohnt. Auch ist es keine Option, die Attraktivität der Stadt zu mindern, nur damit weniger Jobs oder Menschen angezogen werden. Wir sind der Bevölkerung eine hohe Wohnqualität schuldig.

Dann müsste die Stadt deutlich mehr bauen, um das Ungleichgewicht zu reduzieren?

Wir sehen in wachsenden Städten weltweit einen hohen Nachfragedruck. Es ist nicht so, dass diese Nachfrage durch den forcierten Wohnungsbau zwingend kleiner würde. Wenn wir zurückschauen, war die Wohnungsfrage immer ein Thema in wachsenden Städten. Erst wenn sie weniger attraktiv werden, wird weniger investiert und der Wohnungsneubau versiegt.

Wo sehen Sie Zürich im internationalen Vergleich? Näher bei Wien oder bei London?

Wir haben sehr hohe Mietpreissteigerungen, aber wie Wien eine lange Tradition des gemeinnützigen Wohnungsbaus. In kleinerem Ausmass zwar, aber das führt zu einer Dämpfung der Mietpreise. Von daher sind wir nicht Wien, aber doch weit entfernt von London.

 

Christian Zeier

Interview

Juliet Haller

Portrait André Odermatt
CC BY-SA 4.0

Florian Spring

Key Visuals & Animation

Stirling Tschan

Webseite & Typografie